Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
Abfluges nicht in letzter Minute aus dem Luftschiff geholt wurde, durfte niemand auf den Gedanken kommen, sie hätte vor, nach Easton zu fliegen. Sollte ihre Abwesenheit bemerkt, musste sie an einem ganz anderen Ort gesucht werden.
Bei Gesprächen mit der Familie ließ sie immer wieder einfließen, wie sehr sie sich für einen Aufenthalt in einem der Badeorte im Süden Anglias begeisterte. Sie schickte sogar Maria los, ihr entsprechende Broschüren zu besorgen.
Elise und ihre Mutter verdrehten inzwischen bei der bloßen Erwähnung ihres Reisewunsches die Augen. Beide verstanden nicht, was sie Reizvolles daran fand, in fremden Betten zu schlafen und Unbekanntes aufzusuchen. Ihr Vater hörte ihr zwar zu, stellte jedoch fest, sie solle erst sicherer im gesellschaftlichen Umgang werden, bevor die Familie eine solche Reise wagen könne. All diese Reaktionen kamen ihr äußerst gelegen.
Am schwersten fiel ihr, einen Abschiedsbrief zu verfassen. Tagelang haderte sie mit sich. Letzten Endes schrieb sie, dass sie an einem anderen Ort allein über vieles nachdenken wolle. Niemand müsse sich Sorgen um sie machen. Sie würde eine Pension für junge Damen aufsuchen, dort sei sie sicher. Das dafür benötigte Geld habe sie in einem Schrank in Madames Haus gefunden. Dann bat sie ihren Vater, seinen Zorn nicht an Maria, die nichts von ihren Plänen gewusst hätte, auszulassen und diese entweder weiter zu beschäftigen oder ihr ein gutes Zeugnis auszustellen.
Immer wieder las sie die Zeilen durch, änderte sie und verbrannte die alten Zettel im Kamin. Das Geschriebene sollte einerseits das Ziel ihrer Flucht und deren Endgültigkeit vertuschen und andererseits wenigstens halbwegs der Wahrheit entsprechen.
Sie hasste sich für die Lügen. Nur, wenn sie jetzt nicht floh, würde sie nach und nach wie Elise und ihre kichernden Freundinnen werden.
27. Flucht
Mit Riesenschritten näherte sich der Termin für den Geburtstagsball. Ihr Kleid war ein Traum in Mattgelb, ein genaues Duplikat von Elises. Kate betrachtete es jeden Abend, streichelte über die Stickerei an Ärmeln und Saum und berührte die Rüschen und Spitzen. Die mintgrünen Seidenhandschuhe, die bis zu den Ellbogen reichten, waren wie die Ballschuhe dazu passende kleine Kunstwerke.
Auch der Tanzunterricht zeigte endlich erste Erfolge, und sie hielt sich nicht länger für einen hoffnungslosen Fall.
Dennoch, die Feier würde ohne sie stattfinden. Der Tag der Flucht stand fest. Heute und jetzt.
Die Standforts waren, wie jedes Jahr, zu einem nachmittäglichen Teebesuch bei der Königin eingeladen, und seit Tagen redete Elise von nichts anderem.
Kate hatte die einmalige Gelegenheit ergriffen und allen vorgespielt, sie fühle sich unpässlich und müsste das Bett hüten. Weder Mutter noch Schwester hatten besonders traurig gewirkt, weil sie nicht mitkommen konnte. Vermutlich befürchteten beide ganz zu Recht, sie würde die Standforts mit ihrem Verhalten blamieren, nicht tief genug knicksen oder eine falsche Anrede für Ihre Majestät wählen.
Kaum befand sich die Familie außer Haus, schickte Kate Maria ebenfalls fort, ihr verschiedene Dinge aus der Stadt zu besorgen. Das sollte ihre Zofe beschäftigen und gleichzeitig beweisen, dass sie nicht in ihre Fluchtpläne eingeweiht gewesen war.
Jetzt musste alles schnell gehen.
Sie griff sich eine Schere und kürzte das mittlerweile knapp schulterlange Haar. Die abgeschnittenen Strähnen verbrannte sie im Kaminfeuer bei weit geöffnetem Fenster. Dann zog sie die versteckte Männerkleidung hinter dem Schrank hervor. Der bestechliche Diener hatte sie besorgt, ebenso wie eine Reisetasche mit ein wenig Wechselwäsche und die erforderlichen Tickets für den heutigen Tag; ein Flugticket nach Easton und ein Bahnticket in Richtung Küste. Sicherheitshalber ließ sie einen Abschnitt des Bahntickets im Papierkorb zurück, um vorzuspielen, ihr wäre dieser dumme Fehler unterlaufen. Mit etwas Glück würde ihr Vater erst den nächstgelegenen Badeort absuchen lassen und nicht auf den Gedanken kommen, sie sei so verrückt, in ein fremdes Land zu flüchten.
Sie schlüpfte in den Anzug und strich die Falten aus. Klugerweise hatte sie neben dem Ausweis auch die Uhr behalten, die Gustav ihr damals gegeben hatte. Weil ihr Brille und Kappe fehlten, hatte sie sich vom Diener möglichst ähnliche besorgen lassen. Der Spiegel zeigte einen jungen Mann mit noch weichen Gesichtszügen, aber nichts, was zu sehr auffallen sollte. Alles in allem
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