Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
schien Gustav schon eine passende Vertretung für das Passfoto gefunden zu haben. Der alte Griesgram hatte sich damals große Mühe gegeben, sie sicher außer Landes zu schaffen.
Mrs. Harris hatte heute ihren freien Nachmittag, doch durfte Kate auch niemandem sonst begegnen, der sich über einen Unbekannten im Haus wunderte. Nach einem letzten Blick, ob sie nichts Wichtiges übersehen hatte, ergriff sie die Reisetasche und schlich über selten benutzte Treppen bis zu einem der Nebenausgänge. Im Schutz der Hecken huschte sie auf dem Kiesweg bis zum Tor, öffnete es und eilte den Bürgersteig entlang, bis sie außer Sichtweite des Hauses war. Endlich kam die bestellte Mietkutsche. Hastig kletterte sie hinein, ließ sich auf die Sitzbank fallen und atmete erleichtert auf. Das Hemd klebte ihr am Rücken, so groß war die Sorge gewesen, gleich zu Beginn der Flucht ertappt zu werden.
Am Bahnhof befürchtete sie, auf einen der beiden ihr bekannten Polizisten zu treffen, doch zum Glück war nicht ein einziger Uniformierter zu sehen. Sie führte alles exakt so aus, wie sie es bei Gustav beobachtet hatte. Froh, das Gewicht loszuwerden, übergab sie die Tasche einem der Gepäckträger und zeigte wieder Ticket und Pass vor. Niemand fand etwas Ungewöhnliches daran, dass ein so junger Mann ohne Begleitung reiste. Wie beim letzten Mal geleitete ein Flugmatrose sie zum Flieger und erklärte ihr dabei ein wenig darüber. Kate hörte ihm kaum zu, so aufgeregt und erfreut war sie, weil ihr Plan bisher bis ins Kleinste funktioniert hatte.
Diesmal lenkten keine Schmerzen sie ab. Sie genoss es, die Stufen des Flugschiffs zu erklimmen, nickte dem grüßenden Steward zu und ließ sich von ihm in ihr Quartier bringen. Nun blieb nur zu hoffen, dass der Rest der Flucht ebenso reibungslos ablief. Sie setzte sich auf das Bett, wartete ungeduldig auf den Abflug und kontrollierte zum hundertsten Mal, ob Weste und Hose richtig geknöpft waren. Ging alles gut, würde sie sich an Gustavs Empfehlung halten und sich während des dreitägigen Flugs überwiegend in der Kabine aufhalten.
Immer wieder sah sie auf die Taschenuhr. Die Zeit verrann wie zäher Sirup. Wann legten sie endlich ab? Unruhig zappelte sie hin und her und malte sich aus, wie gleich jemand an die Tür schlug und ihr befahl herauszukommen. Irgendwann ertrug sie die Anspannung nicht mehr und begab sich in den Salon.
Sie wählte einen Sitzplatz am Fenster und beobachtete das Treiben draußen. Wenn man sie fortschleppte, dann wollte sie vorher gewarnt sein und nicht in der Kabine hocken. Bei jedem neuen Passagier, jedem Flugmatrosen, der die Treppe heraufkam, achtete sie darauf, ob derjenige wohl nach ihr Ausschau hielt.
»Entschuldigung, mein Herr!«
Einer der Stuarts sprach sie an. Kate stockte der Atem, doch bot der Mann ihr nur die Nachmittagszeitung an und fragte nach speziellen Wünschen zum Tee.
Nach einem kurzen Räuspern antwortete sie ihm so ruhig wie möglich. Die Hände fest auf die Stuhllehnen gepresst, um das Zittern zu verbergen, wartete sie ab, bis er endlich den Tee serviert hatte. Falls ihm ihre Nervosität oder die Verkleidung auffiel, merkte sie es ihm nicht an. Stattdessen wandte er sich den neben ihr sitzenden Passagieren zu. Einem jungen Ehepaar, das mit einer ältlichen Frau reiste, die ununterbrochen über ihre Krankheiten lamentierte.
Kate griff nach der feinen Porzellantasse und nahm einen Schluck. Ihre Kehle fühlte sich ausgedörrt an. Erleichtert sah sie zu, wie die Arbeiter endlich die dicken Haltetaue lösten. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte ihnen geholfen, damit es schneller ging.
Langsam stiegen sie empor, wobei der Tee in der Tasse nur geringfügig hin und her schwappte. Die gewaltige, mit Wasserstoff gefüllte Hülle, an deren Unterseite sie klebten, schützte sie vor dem Fahrtwind.
Die Welt unter ihr wurde stetig kleiner. Sobald sie ausreichend an Höhe gewonnen hatten, bewegten sie sich Richtung Südwesten. Sie schwebten erst über das Ende des Flugfeldes, dann über rußige Hausdächer, schließlich über die mächtigen Schlote der Fabriken, die wie ein nie schlafendes Ungeheuer Feuer und Rauch in den Himmel spuckten.
Statt aufzuspringen und ihre Freude herauszuschreien, nippte Kate weiter an ihrem Tee. Er schmeckte nach Freiheit und neuen Ufern. Sie lehnte sich zurück und entspannte sich.
Neuanglia wartete auf sie. Verhielt sie sich in den nächsten Tagen klug, war sie beinahe am Ziel. Ihre Eltern würden sie überall
Weitere Kostenlose Bücher