Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
vermuten, nur nicht hier, versicherte sie sich wieder und wieder.
Abgelenkt fuhr sie über die rechte Hand, spürte das vertraute Kitzeln der verheilten Brüche.
Ein letzter Blick aus dem Fenster zeigte nun nichts mehr als eine dicke Nebeldecke. Sie stand auf, nahm allen Mut zusammen und suchte einen der Stuarts auf.
»Ich fühle mich ein wenig unwohl. Wenn möglich, möchte ich mein Dinner in der Kabine einnehmen«, bat sie.
»Natürlich«, antwortete der Mann, notierte kurz ihren Namen und fragte: »Benötigen der Herr einen Arzt?«
Sie verneinte und drückte ihm eine Münze in die behandschuhten Finger.
Um zu schlafen, war es zu früh, also zog sie ihr Lieblingsbuch über die Welt aus der Reisetasche und las darin. Ab und zu schweiften die Gedanken zu ihrer Familie ab, dann quälte sie das schlechte Gewissen.
Andererseits: Ihnen allen brachte ihr Verschwinden nur Vorteile. Niemand würde ihr ernsthaft nachtrauern. Vielleicht Maria, und auch bei ihr war sie nicht sicher.
Ihr Vater würde mächtig zornig auf sie sein, ihre Mutter Migräne bekommen und Elise nichts verstehen. Doch nach nur wenigen Tagen würden sie merken, wie viel angenehmer und einfacher ihr Leben ohne die peinliche, ungeschickte Kate verlief.
Gerade verspürte sie Hunger, da klopfte es. Ein Steward stellte ein kleines aufklappbares Tischchen auf und servierte kurze Zeit später das Abendessen. Er bot ihr an, ältere Zeitungen aus Easton zu bringen, was sie gerne in Anspruch nahm. Je mehr sie über die Stadt erfuhr, desto besser. Ein wenig unwohl wurde ihr schon bei dem Gedanken, in ein völlig fremdes Land zu reisen.
Sie machte sich keine Illusionen über ihre mangelnde Menschenkenntnis. Sie benötigte Schutz und war zu jung und unerfahren, um sich ohne Hilfe durchzuschlagen. Die Welt war ein gefährlicher Ort für alleinstehende Frauen und Mädchen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gleich nach der Ankunft auf die Suche nach Gustav zu machen. Vermutlich gab er sich nur noch sehr widerwillig mit ihr ab. Sobald er den Rest des Schatzes sah, würde das seine Einstellung zu ihr ändern. Hoffte sie.
Nicht, dass sie Gustav besonders mochte. Er war ein Ekel, aber der Einzige, den sie kannte. Ein kleines Problem gab es. Was, wenn er sich an ihr rächen wollte? Sie zu ermorden versuchte, um an das Geld zu kommen? Das war ein Risiko, das sie eingehen musste.
Sie gähnte und streckte sich. Was für ein aufregender Tag.
Das Frühstück nahm sie im Salon ein und erschien ganz früh, um auf möglichst wenig Menschen zu treffen. Außer ihr waren nur zwei ältere Damen anwesend, in eine Unterhaltung vertieft, und sie schenkten ihr keinerlei Beachtung. Kate wählte ein weiteres Mal den Platz am Fenster. Unter ihr klammerte sich dichter Bodennebel an die Erde und waberte nur ab und zu mit fingerähnlichen Ausstülpungen in ihre Richtung, als wolle er das Schiff einfangen. Stückchenweise kämpfte sich die Sonne als gigantischer Feuerball aus dem Grau hervor, ein prachtvoller Anblick. Sobald sich der Raum mit den anderen Frühstücksgästen zu füllen begann, bat sie den Steward, ihr die nächste Mahlzeit in die Kabine bringen zu lassen, und zog sich zurück.
Zur Mittagszeit klopfte es. Ein älterer Mann trat ein und ließ die Tür ins Schloss knallen, dass ihr die Ohren dröhnten. Die Abzeichen auf der Uniform verrieten den hohen Dienstrang und sein Gesichtsausdruck bedeutete nichts Gutes. Falls er nicht nur ein mitfliegender Arzt war, der sich nach ihrem Befinden erkundigen wollte, saß sie gewaltig in der Patsche. Kate legte ihr Buch zur Seite und erhob sich langsam, bemüht, ruhig und selbstsicher zu erscheinen. Fieberhaft überlegte sie, ob der Plan, ihre Spur zu verwischen, gescheitert sein könnte.
Eine knappe Verbeugung, dann nahm der Mann kein Blatt vor den Mund.
»Wir beide wissen, worum es geht, junge Lady. Wir haben einen Funkspruch ihres Vaters empfangen«, herrschte er sie an, ohne sich vorzustellen.
Funkspruch?
Was meinte er damit?
Offensichtlich las er ihr die Verwirrung vom Gesicht ab. Hämisch stellte er fest: »Keine Ahnung gehabt, dass wir seit ein paar Wochen Verbindung zu Bodenstationen haben, was?«
Sie biss sich auf die Lippe. Stimmt, sie hatte von derartigen Versuchen gelesen, aber nicht gewusst, wie weit diese schon fortgeschritten waren.
»Der Baron möchte, dass von diesem Ausflug möglichst wenig bekannt wird. Ein Zwischenhalt ist nicht mehr geplant. Sie werden uns daher bis nach Easton begleiten
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