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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Blatt Papier. T. faltete es auseinander und sah eine Zeichnung – ein bärtiger Mann, der eine Hand über den Kopf gehoben hatte (die Finger der anderen Hand waren unter den Gürtel des Bauernhemdes geschoben).
    Darüber sah man eine sternförmige Explosion und das Wort »Bum-Bum!«, von dem aus zwei Dreiecke nach unten verliefen, ein schmales und ein breites. Unter dem schmalen Dreieck, in dem ein Mann stand, hieß es: »Hier wirst du gerettet.« Das breite Dreieck, in dem sich schemenhafte Gestalten wälzten, nannte sich »Ort des Verderbens«.
    Unter der Zeichnung war eine Bleistiftnotiz:
    Graf, auf der Zeichnung sehen Sie alles. Wenn Sie den Finger auf die Zündkapsel drücken, werfen Sie das Baby über den Kopf, aber so, dass es wenigstens einen Arschin hoch fliegt. Es dreht sich dann von selbst (Sie müssen sachte werfen und es nicht drehen). Es geht genau über Ihrem Kopf los und macht alles ringsum kaputt, ohne Sie zu treffen. Üben Sie vorher, werfen Sie es ein paar Mal vorsichtig hoch.
    De Martignac, Schicksalsschmied
    Jasnaja Poljana
    »De Martignac?«, überlegte T. und nahm eine Bombe aus ihrem scharlachroten Samtnest. »Wohl einer der Nachkommen. Ist offenbar Schmied geworden, bravo! Aber ich erinnere mich nicht an ihn, kann mich an niemanden erinnern. Das ist beinahe eine richtige Juwelierarbeit …«
    Am Boden des einen Kegels befand sich eine fein ziselierte Gravur: Die Klaglose . T. warf die Bombe ein paar Mal in die Luft. Wenn sie ihren höchsten Punkt erreicht hatte, drehte sie sich jedes Mal mit dem Kapselzünder nach unten. Nachdem er die Übung mit dem anderen Todeskegel wiederholt hatte (die zweite Bombe hieß Die Stumme ), schob T. beide Kegel vorsichtig in die Tasche seiner weiten Hose.
    Manche der Gegenstände, die man ihm geschickt hatte, fand er befremdlich – etwa eine alte Gabel mit zwei weit auseinanderstehenden Zinken und der unbeholfen auf dem Griff eingeritzten merkwürdigen Bezeichnung Die Wahrheit .
    »Was soll das bedeuten, die Wahrheit?«, überlegte T. »Vielleicht – die Wahrheit sticht ins Auge? Ich vergesse schon den gewaltlosen Widerstand. Jetzt aber schön der Reihe nach …«
    Schließlich war die Vorbereitung beendet. T. musterte sich noch einmal im Spiegel. Sein Bart war üppig und wirkte etwas grau, als wäre er in den letzten Minuten viel älter und weiser geworden. T. grinste und warf einen Blick auf die Ritteruhr. Es war Zeit aufzubrechen.
    Als er aus dem Hotel kam, zuckte er zusammen.
    Axinja saß in einem neuen gelben Sarafan auf ihrem Wagen direkt vor der Treppe. Bei T.s Anblick sprang sie vom Wagen herunter und stürzte ihm entgegen, doch als sie seinen Aufzug bemerkte, erschrak sie plötzlich – sie bremste abrupt, schlug die Hände zusammen und wich zurück.
    »Du?«, hauchte sie. »Oder bist du es nicht?«
    »Doch«, sagte T. verdrossen. »Du stehst ja früh auf …«
    »Haben sie dich bei den Gendarmen entlassen?«, fragte Axinja mitleidig. »Hast wohl zu viel mit deinem Beil herumgefuchtelt. Du warst betrunken, da wärst du besser zu Hause geblieben …«
    Der Zimmerkellner aus dem Hotel, der gerade in diesem Moment auftauchte, blieb neben ihnen stehen, ging in die Hocke, tat so, als würde er seine Schnürsenkel binden, und spitzte die Ohren.
    »Willst du den Wagen holen?«, fragte T. streng. »Nimm ihn und fahr mit Gott. Ich habe zu tun.«
    »Wo willst du denn wohl hin in dem Aufzug?«, fragte Axinja mit einem Seitenblick auf den Zimmerkellner. »Eine Schande mit diesen Bastschuhen. Komm mit, ich geb dir wenigstens ein Paar alte Stiefel.«
    »Verschwinde, Axinja«, wiederholte T. leise. »Wir reden nachher darüber.«
    »Trink bloß nicht, Lewuschka!«, lamentierte Axinja. »Um Christi willen, ich flehe dich an, trink bloß nicht! Du bist so komisch, wenn du was getrunken hast!«
    T. sprang auf das Pferd, rammte ihm die unter dem Bast verborgenen Steigeisen in die Seiten und preschte über die morgendliche Straße davon, ohne sich umzusehen.
    Der Hinterhalt erwartete ihn drei Werst hinter der Stadt, bei einem verlassenen Bootshaus, wo ein Pfad von der Straße abzweigte und zum Fluss hinunterführte.
    T. spürte es instinktiv, obwohl es keinerlei äußere Anzeichen für eine Gefahr gab. Rings um die halb verfallene Baracke aus Ziegelstein schwankten Holunderbüsche im Wind; die gestreifte Schranke an der Böschung zum morschen Anleger stand offen, das verwitterte Wächterhäuschen war leer – über allem lag der Eindruck jahrelanger

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