Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
baumeln ließe, dann würde hoffentlich ein Hai kommen und sie abreißen. Er bestellte einen Nachtisch, den er um keinen Preis mehr hinuntergebracht hätte, aber Marge aß ihn noch.
Marge wünschte eine Extragondel, selbstverständlich, nicht etwa eine der normalen Gondeln im Linienverkehr, die jeweils mehr als zehn Personen vom Markusplatz zu den Stufen der Santa Maria della Salute hinüberbrachten. Sie mieteten also eine Gondola. Es war halb zwei Uhr morgens. Tom hatte einen dunkelbraunen Geschmack im Mund von den vielen Espressos, sein Herz flatterte wie ein Vöglein, er war sicher, daß er bis in den frühen Morgen hinein nicht würde schlafen können. Er war völlig ausgepumpt und lehnte sich beinahe ebenso schlapp in den Sitz der Gondel zurück wie Marge, dabei sah er sich sehr vor, daß sein Oberschenkel nicht den ihren berührte. Marge war noch immer von sprühender Munterkeit, sie unterhielt sich jetzt mit einem Monolog über den Sonnenaufgang in Venedig, den sie anscheinend früher schon einmal hier erlebt hatte. Das sanfte Schaukeln des Bootes und die rhythmischen Schläge der Ruder ließen in Tom leichte Übelkeit aufsteigen. Die Wasserstrecke zwischen dem Markusplatz und seiner Treppe schien endlos.
Jetzt lagen die Stufen bis auf die zwei obersten unter Wasser, die dritte Stufe wurde vom Wasser gerade überspült, widerlich, wie das Moos sich bewegte. Mechanisch bezahlte Tom den Gondoliere und stand vor dem hohen Tor, als er feststellte, daß er die Schlüssel nicht bei sich hatte. Er ließ den Blick über das Haus gleiten, um zu sehen, ob er nicht irgendwo einsteigen konnte, aber von der Treppe aus konnte er nicht einmal eine Fensterbrüstung erreichen. Noch ehe er etwas sagen konnte, brach Marge in Gelächter aus.
»Sie haben den Schlüssel nicht mit! Ausgerechnet das - an die Schwelle gefesselt, rings herum die tobenden Fluten, und kein Schlüssel!«
Tom quälte sich ein Lächeln ab. Warum zum Teufel sollte er daran gedacht haben, Schlüssel mitzunehmen, die fast eine Elle maßen und so schwer waren wie ein paar Revolver? Er wandte sich um und schrie dem Gondoliere zu, er solle zurückkommen.
»Ah!« kicherte der Gondoliere übers Wasser. »Mi dispiace, signor! Deb´ ritornare a San Marco! Ho un appuntamento!« Er ruderte weiter.
»Wir haben keinen Schlüssel!« schrie Tom auf italienisch.
»Mi dispiace, signor!« schrie der Gondoliere zurück. »Mandarò un altro gondoliere!«
Marge lachte wieder. »Oh, ein anderer Gondoliere wird uns abholen. Ist es nicht herrlich?« Sie war voller Erwartung.
Es war alles andere als eine schöne Nacht. Es war kühl, und ein häßlicher Nieselregen hatte eingesetzt. Er könnte versuchen, die Fähre heranzuholen, dachte Tom, aber er sah sie nirgends. Das einzige Boot, das er entdecken konnte, war das Motoscafo, das sich der Anlegestelle des Markusplatzes näherte. Es war kaum zu erwarten, daß das Motoscafo sich die Mühe machte, sie zu holen, aber Tom schrie trotzdem hinüber. Das Motoscafo, hellerleuchtet und voller Menschen, zog unbeirrt vorbei und bog hinüber zum Holzpier drüben am anderen Kanalufer. Marge saß auf der obersten Stufe, die Arme um die Knie geschlungen, und tat gar nichts. Endlich verlangsamte ein flaches Motorboot seine Fahrt, es sah aus wie eine Art Fischerboot, und eine italienische Stimme schrie: »Ausgesperrt?«
»Wir haben die Schlüssel vergessen!« gab Marge fröhlich Auskunft.
Aber mit ins Boot wollte sie nicht. Sie sagte, sie wollte auf der Treppe warten, bis Tom ums Haus herumgegangen sei und die Hintertür aufgeschlossen habe. Tom wandte ein, das könnte eine Viertelstunde und noch länger dauern, und sie würde sich bestimmt hier eine Erkältung holen, und endlich stieg sie ein. Der Italiener setzte sie an der nächstgelegenen Anlegestelle bei den Treppen der Kirche Santa Maria della Salute ab. Er weigerte sich, Geld für seine Bemühungen anzunehmen, aber er nahm Toms angebrochene Packung amerikanischer Zigaretten. Tom wußte nicht warum, aber er hatte in dieser Nacht, da er mit Marge durch die San Spiridone ging, viel mehr Angst, als wenn er allein hindurchlief. Marge natürlich war völlig unbeeindruckt von der Straße und redete unaufhörlich während des ganzen Weges.
25
Am nächsten Morgen wurde Tom sehr früh vom Bumsen seines Türklopfers geweckt. Er tastete nach seinem Morgenrock und ging hinunter. Es war ein Telegramm, und er mußte noch einmal nach oben rennen, um ein Trinkgeld für den Mann zu holen. Dann
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