Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
stand er im kalten Wohnzimmer und las.
HABE MEINUNG GEÄNDERT. MÖCHTE SIE SPREKEN. ANKOMME 11.45. H. GREENLEAF
Tom erschauerte. Na ja, er hatte damit gerechnet, dachte er. Aber im Grunde hatte er nicht damit gerechnet. Ihm graute davor. Oder lag das einfach an der frühen Morgenstunde? Es dämmerte kaum. Das Wohnzimmer sah grau und scheußlich aus. Das »SPREKEN« verlieh dem Telegramm so etwas Gruseliges, Archaisches. Im allgemeinen wiesen italienische Telegramme viel komischere Schreibfehler auf. Und was wäre gewesen, wenn sie statt des »H.« ein »R.« oder ein »D.« gesetzt hätten? Wie ihm dann wohl jetzt zumute wäre?
Er sauste nach oben und kroch wieder in sein warmes Bett, er wollte versuchen, noch ein bißchen zu schlafen. Eine Zeitlang wartete er darauf, daß Marge hereinkommen oder an seine Tür klopfen würde, weil sie diesen lauten Türklopfer gehört hätte, doch schließlich zog er den Schluß, sie sei wohl nicht davon aufgewacht. Er stellte sich vor, wie er Mr. Greenleaf an der Tür begrüßen, ihm fest die Hand drücken würde, und er versuchte sich auszumalen, was Mr. Greenleaf fragen würde, aber müde verschwammen seine Gedanken ineinander, es verursachte ihm Angst und Unbehagen. Er war zu schläfrig, um klare Fragen und Antworten zu formulieren, und zu angespannt, um einzuschlafen. Er wäre gern aufgestanden, hätte Kaffee gekocht und Marge geweckt, damit er mit irgend jemandem hätte reden können, aber er brachte es nicht über sich, dieses Zimmer zu betreten und die Unterwäsche und Strumpfhaltergürtel überall herumliegen zu sehen, er konnte einfach nicht.
Es war Marge, die ihn weckte, und sie hatte unten bereits Kaffee gemacht, sagte sie.
»Was meinen Sie wohl?« sagte Tom mit breitem Lächeln. »Ich habe heute früh ein Telegramm von Mr. Greenleaf bekommen, und er kommt heute mittag.«
»Er kommt? Wann ist das Telegramm denn gekommen?«
»Heute ganz früh. Wenn ich das nicht geträumt habe.« Tom suchte es. »Hier ist es ja.«
Marge las das Telegramm. »Möchte Sie spreken«, sagte sie und lachte ein bißchen. »Na, ist ja nett. Es wird ihm guttun. Hoffe ich. Kommen Sie herunter, oder soll ich den Kaffee herauf bringen?«
»Ich komme«, sagte Tom und zog seinen Morgenrock an.
Marge war bereits angekleidet, sie trug Hose und Pullover, eine schwarze Cordhose, gutgeschnitten und maßgeschneidert, schätzte Tom, denn sie saß so tadellos an ihrer Kürbisfigur, wie Hosen nur sitzen konnten. Sie zogen das Kaffeetrinken in die Länge, bis um zehn Anna und Ugo kamen und Milch und Brötchen und die Morgenzeitungen brachten. Dann machten sie neuen Kaffee und heiße Milch und setzten sich ins Wohnzimmer. Es war wieder einmal ein Morgen, an dem nichts über Dickie oder den Fall Miles in den Zeitungen stand. Das kam manchmal vor, und dann brachten immer die Abendzeitungen etwas, selbst wenn es nichts wirklich Neues zu berichten gab, nur um einen daran zu erinnern, daß Dickie noch vermißt und der Miles-Mord noch immer nicht aufgeklärt war.
Marge und Tom gingen zum Bahnhof, um Mr. Greenleaf um dreiviertel zwölf abzuholen. Es regnete wieder, und es war so windig und kalt, daß der Regen sich auf ihren Gesichtern wie Hagel anfühlte. Sie standen im Schutze der Bahnhofshalle, beobachteten die Leute, die durch die Sperre kamen, und endlich, da war Mr. Greenleaf, ernst und bleich. Marge sprang hinzu, küßte ihn auf die Backe, und er lächelte ihr zu.
»Hallo, Tom!« sagte er herzlich, er streckte die Hand aus. »Wie geht´s?«
»Danke, sehr gut. Und Ihnen?«
Mr. Greenleaf hatte nur ein kleines Köfferchen, aber ein Dienstmann trug es, und der Dienstmann fuhr mit ihnen im Motoscafo, obwohl Tom gesagt hatte, er könnte ohne weiteres den Koffer tragen. Tom schlug vor, daß sie geradewegs zu ihm gingen, aber Mr. Greenleaf wollte sich zuerst in einem Hotel einmieten. Er bestand darauf. »Ich werde zu Ihnen hinüberkommen, sobald ich ein Zimmer habe«, sagte er. »Ich habe gedacht, ich probiere es mal mit dem ›Gritti‹. Liegt das irgendwo in Ihrer Nähe?«
»Das nicht gerade, aber Sie können bis zum Markusplatz gehen und dort mit der Gondel übersetzen«, sagte Tom. »Wir können auch mitkommen, wenn Sie sich nur eben eintragen wollen. Ich dachte, wir könnten heute mittag alle zusammen essen gehen - wenn Sie nicht lieber eine Weile mit Marge allein sein wollen.« Er war wieder der alte selbstlose Tom Ripley.
»Bin in erster Linie hier, um mit Ihnen zu reden!« sagte Mr.
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