Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
sie eine Klinik für unverheiratete Mütter besichtigt hat, beispielsweise -, aber die ersten beiden Abfuhren hatten all seinen Mut und all seine Hoffnungen vernichtet. Er verfügte nicht über finanzielle Reserven, also hatte er die Arbeit auf dem Frachter angenommen, die ihn wenigstens von New York wegbrachte. Er hatte Angst, daß Tante Dottie die Polizei beauftragen würde, in New York auf ihn aufzupassen, dabei hatte er in Boston gar nichts Böses getan, er war bloß auf und davon gegangen, um seinen eigenen Weg zu machen in der Welt, so wie es vor ihm Millionen anderer junger Männer gemacht hatten.
Sein Hauptfehler war, dachte Tom, daß er nie bei einer Sache geblieben war, beispielsweise dem Buchhalterjob im Warenhaus, aus dem hätte noch was werden können, wäre er nicht so völlig entmutigt gewesen durch das Schneckentempo, in dem man im Warenhaus vorankam. Na ja, in gewissem Umfang traf ja Tante Dottie die Schuld daran, daß es ihm an Ausdauer fehlte, nie hatte sie ihm, als er Kind war, Anerkennung gezeigt, wenn er bei einer Sache Ausdauer bewies - zum Beispiel beim Zeitungsaustragen damals, dreizehn war er gewesen. Er hatte bei der Zeitung eine Silbermedaille für »Höflichkeit, Service und Zuverlässigkeit« gewonnen. Es war, als blickte er zurück auf einen anderen Menschen, wenn er an sein damaliges Ich dachte - ein mageres, tropfnasiges Kerlchen mit einem ewigen Schnupfen, das es dennoch fertigbrachte, eine Medaille für Höflichkeit, Service und Zuverlässigkeit zu gewinnen. Tante Dottie hatte ihn gehaßt, wenn er Schnupfen hatte; sie pflegte ihr Taschentuch zu nehmen und ihm die Nase beim Putzen beinahe abzudrehen. Tom wand sich bei diesem Gedanken in seinem Liegestuhl, aber er wand sich doch elegant und zog dabei seine Bügelfalten glatt.
Er erinnerte sich an die Schwüre, die er sich selber geleistet hatte, schon mit acht Jahren, wegzulaufen von Tante Dottie, an die wilden Szenen, die sich in seiner Phantasie abspielten - Tante Dottie, die versuchte, ihn im Hause festzuhalten, und er, der sie mit den Fäusten bearbeitete, sie zu Boden schmetterte, sie würgte, der schließlich die große Brosche von ihrem Kleid riß und sie millionenmal in ihre Kehle stieß. Mit siebzehn war er davongelaufen und zurückgebracht worden, und mit zwanzig hatte er es wieder versucht und es war geglückt. Wie verblüffend und mitleiderregend naiv war er gewesen, wie wenig hatte er gewußt vom Lauf der Welt, es war, als hätte er so viel Zeit dazu gebraucht, Tante Dottie zu hassen und seine Flucht vor ihr zu planen, daß ihm nicht Zeit genug übrigblieb, zu lernen und zu wachsen. Er erinnerte sich, wie ihm zumute gewesen war, als man ihn wärend seines ersten Monats in New York aus der Stellung in jenem Lagerhaus hinausgeworfen hatte. Weniger als zwei Wochen hatte er dort gearbeitet, weil er nicht kräftig genug war, acht Stunden am Tag Apfelsinenkisten zu stemmen, aber er hatte sein Bestes getan und hatte sich völlig fertiggemacht in dem Bemühen, diesen Job zu halten, und als sie ihn entließen, hatte er es für entsetzlich ungerecht gehalten, er wußte es noch genau. Er wußte auch noch, daß er damals den Schluß gezogen hatte, man müsse ein Tier sein, zäh wie die Gorillas, die im Lagerhaus mit ihm gearbeitet hatten, oder man müsse verhungern. Er dachte daran, wie er unmittelbar darauf ein Brot aus einem Feinkostgeschäft gestohlen hatte, wie er es nach Hause getragen und verschlungen hatte mit dem Gefühl, daß die Welt ihm ein Brot schuldig sei und mehr.
»Mr. Ripley?« Eine der Engländerinnen, die neulich beim Tee mit ihm auf dem Sofa des Clubzimmers gesessen hatten, beugte sich über ihn. »Wir wollten Sie fragen, ob Sie nicht Lust hätten, eine Partie Bridge mit uns zu spielen? Wir wollen ungefähr in einer Viertelstunde anfangen, im Spielraum.«
Höflich richtete Tom sich in seinem Liegestuhl auf. »Recht vielen Dank, aber ich glaube, ich bleibe lieber draußen. Außerdem spiele ich nicht allzu gut Bridge.«
»Ach, wir auch nicht! Na, dann ein andermal!« Sie lächelte und ging.
Tom sank in seinen Stuhl zurück, zog die Mütze über die Augen und faltete die Hände über dem Bauch. Er wußte, seine Eigenbrötlerei war Gesprächstoff für die Passagiere. Er hatte mit keinem der albernen Mädchen getanzt, die jeden Abend beim Tanz nach dem Dinner kirchernd und hoffnungsvoll ihre Blicke auf ihn hefteten. Er malte sich aus, was für Spekulationen die Passagiere anstellen mochten: ist er Amerikaner? Ich
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