Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
Butler und ein Mädchen, eine endlose Tafel voller patés en croûte, Puterbraten, petits fours und Massen von Champagner, aber die Polsterung des Sofas und die schweren Vorhänge an den Fenstern waren fadenscheinig und zerfielen bald vor Alter, und im Hausflur neben dem Aufzug hatte Tom Mauselöcher entdeckt. Wenigstens ein halbes Dutzend der Gäste, denen man ihn vorgestellt hatte, waren Grafen und Baronessen. Ein Amerikaner informierte Tom, daß der junge Mann und das Mädchen, die ihn eingeladen hatten, heiraten wollten, worüber ihre Eltern gar nicht begeistert wären. Es herrschte eine etwas gedrückte Atmosphäre in dem großen Raum, und Tom strengte sich mächtig an, zu jedermann so liebenswürdig wie nur möglich zu sein, sogar zu den strenger dreinblickenden Franzosen, mit denen er wenig mehr als »C´est très agréable, n´est-ce-pas?« reden konnte. Er tat sein Bestes, und zum Lohn lächelte ihn wenigstens die Französin an, die ihn eingeladen hatte. Er war glücklich, daß er hier sein durfte. Wie vielen alleinstehenden Amerikanern in Paris gelang es, schon nach einer Woche oder so zu Franzosen eingeladen zu werden? Die Franzosen brauchten besonders lange, ehe sie einen Franzosen in ihre Wohnung einluden, hatte Tom immer gehört. Nicht einer der anwesenden Amerikaner schien seinen Namen zu kennen. Tom fühlte sich vollkommen unbeschwert, so lange er zurückdenken konnte, hatte er sich noch auf keiner Gesellschaft so unbeschwert gefühlt. Er gab sich so, wie er sich seit je auf einer Gesellschaft hatte geben wollen. Das war das ganz neue Leben, das er sich während der Überfahrt von Amerika auf dem Schiff erträumt hatte. Das war es - seine Vergangenheit war ausgelöscht, er selbst, Tom Ripley, der von dieser Vergangenheit geprägt war, war ausgelöscht, und er war wiedergeboren als ein völlig neuer Mensch. Eine Französin und zwei der anwesenden Amerikaner luden ihn zu Parties ein, aber Tom lehnte alle Einladungen mit den gleichen Worten ab: »Recht vielen Dank, aber leider verlasse ich morgen Paris.«
Es war nicht ratsam, sich mit einem dieser Leute allzusehr einzulassen, dachte Tom. Konnte ja sein, daß einer von ihnen einen Bekannten hatte, der mit Dickie gut befreundet war, einen Bekannten, der vielleicht bei der nächsten Party auftauchte.
Um Viertel nach elf verabschiedete er sich von seiner Gastgeberin und ihren Eltern, die ihn nur sehr ungern gehen sahen. Aber er wollte um Mitternacht in Notre Dame sein. Es war der Heilige Abend.
Die Mutter des Mädchens erkundigte sich noch einmal nach seinem Namen. »Monsieur Granelafe«, wiederholte das Mädchen ihr den Namen. »Diekie Granelafe. Richtig?«
»Richtig«, nickte Tom lächelnd.
Er war gerade unten im Treppenhaus angekommen, als ihm die Freddie-Miles-Gesellschaft von Cortina einfiel. Zweiten Dezember. Vor fast einem Monat! Er hatte Freddie schreiben wollen, daß er nicht käme. Ob Marge hingefahren war? Freddie würde es recht eigenartig finden, daß er nicht geschrieben und sich abgemeldet hatte, und Tom hoffte, daß Marge wenigstens Freddie Bescheid gesagt hätte. Er mußte sofort an Freddie schreiben. In Dickies Adressenverzeichnis stand eine Florenzer Adresse für Freddie. Ein Schnitzer, aber nicht schwerwiegend, dachte Tom. So etwas sollte ihm jedenfalls nicht noch einmal passieren.
Er ging in die Dunkelheit hinaus und lenkte seine Schritte in die Richtung des angestrahlten, kalkweiß leuchtenden Triumphbogens. Ein eigenartiges Gefühl, so allein zu sein und doch so sehr Teil der Dinge, wie er es auf der Party empfunden hatte. Und er empfand es wieder, als er am Rande der Menschenmasse stand, die den Platz vor Notre Dame füllte. Es drängten sich hier so viele Menschen, daß er unmöglich in die Kathedrale hineinkommen konnte, aber Lautsprecher trugen die Musik deutlich über den ganzen Platz. Französische Weihnachtslieder, die ihm unbekannt waren. ›Stille Nacht‹. Ein feierlicher Choral, dann ein lebhaftes, munteres Lied. Männergesang. Neben ihm nahmen die Franzosen ihre Hüte ab. Tom zog auch seinen. Er stand hochaufgerichtet, mit ruhigem Gesicht, aber bereit zu lächeln, falls jemand ihn ansprechen sollte. Die gleichen Gefühle durchströmten ihn wie damals auf dem Schiff, nur noch intensiver, er war voll guten Willens, ein Gentleman, aus dessen Vergangenheit kein Schatten auf seinen Charakter fiel. Er war Dickie, der gutmütige, naive Dickie mit einem Lächeln für jedermann und einem Tausendfrancschein für jeden, der ihn
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