Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
darum bat. Ein alter Mann bettelte Tom an, als er den Platz vor der Kirche verließ, und er gab ihm einen knisternden blauen Tausendfrancschein. Das Gesicht des Alten blühte auf in einem Lächeln, er tippte an seinen Hutrand.
Tom hatte ein bißchen Hunger, aber er war nicht abgeneigt, heute abend hungrig schlafen zu gehen. Er würde sich noch eine Stunde oder so mit seinem Italienischbuch beschäftigen, dachte er, und dann zu Bett gehen. Dann fiel ihm ein, daß er beschlossen hatte, nach Möglichkeit noch etwa fünf Pfund zuzunehmen, weil Dickies Sachen ihm eine Kleinigkeit zu weit waren und weil Dickie im Gesicht auch etwas voller war als er, also betrat er eine bar-tabac und bestellte ein Sandwich, Schinken auf einem langen, knusprigen Weißbrot, dazu ein Glas heiße Milch, denn der Mann, der neben ihm an der Theke saß, trank heiße Milch. Die Milch hatte fast gar keinen Geschmack, sie schmeckte rein und keusch, so wie sich Tom den Geschmack der Hostie in der Kirche vorstellte.
Ohne Hast begab er sich von Paris auf den Rückweg, blieb über Nacht in Lyon und in Arles, wo er all die Stätten aufsuchte, die van Gogh gemalt hatte. Trotz des ganz miserablen Wetters bewahrte er sich seinen fröhlichen Gleichmut. In Arles weichte er völlig durch in dem Regen, den der heftige Mistral mitbrachte, während Tom sich mühte, ganz genau herauszufinden, wo van Gogh gestanden hatte beim Malen. Tom hatte sich in Paris ein wunderbares Buch mit van Gogh-Reproduktionen gekauft, aber er konnte das Buch nicht mitnehmen in den Regen und mußte ein dutzendmal zurücklaufen zu seinem Hotel, um die Szenen nachzuprüfen. Er sah sich Marseille an, fand es mies bis auf die Cannebière und fuhr mit dem Zug weiter gen Osten, blieb einen Tag in St. Tropez, Cannes, Nizza, Monte Carlo, in all den Städten, von denen er so viel gehört hatte und die ihm jetzt, da er sie sah, so vertraut waren, obwohl jetzt Dezember war und sie alle von winterlich grauen Wolken bedeckt waren, auch fehlte die fröhliche Menschenmenge, sogar am Neujahrsabend in Mentone. Aber Toms Phantasie setzte all diese Menschen an ihre Plätze, Männer und Frauen in Abendtoilette stiegen die breiten Treppen zum Casino von Monte Carlo herab, Menschen in leuchtenden Strandkostümen, bunt und strahlend wie ein Dufy-Aquarell, flanierten unter den Palmen der Promenade des Anglais in Nizza. Viele Menschen - Amerikaner, Engländer, Franzosen, Deutsche, Schweden, Italiener. Romantik, Enttäuschung, Streitereien, Versöhnungen, Mord. Die Côte d´Azur begeisterte ihn, wie ihn in seinem ganzen Leben noch kein Ort auf der Welt begeistert hatte. Und dabei war er so winzig klein, wirklich, dieser Bogen in der Mittelmeerküste mit den großartigen Namen wie Perlen auf der Schnur - Toulon, Fréjus, St. Raphael, Cannes, Nizza, Mentone und dann San Remo.
Als Tom am vierten Januar wieder in Rom ankam, waren zwei Briefe von Marge da. Am ersten März gab sie ihr Haus auf, teilte sie mit. Der Entwurf ihres Buches war zwar noch nicht ganz fertig, aber drei Viertel davon wollte sie mitsamt den Bildern an den amerikanischen Verleger schicken, der sich im vergangenen Sommer interessiert gezeigt hatte, als sie ihm von ihrer Idee schrieb. Ihr Brief lautete weiter: »Wann sehen wir uns? Der Gedanke ist mir schrecklich, daß ich vor dem Sommer in Europa davonlaufen soll, nachdem ich wieder einen scheußlichen Winter überstanden habe, aber ich werde wohl doch Anfang März nach Hause fahren. Ja, ich habe Heimweh, wirklich richtiges Heimweh. Liebling, es wäre so schön, wenn wir beide zusammen mit dem gleichen Schiff nach Hause fahren könnten. Ob das nicht möglich ist? Wohl kaum. Willst Du denn in diesem Winter nicht wenigstens für eine Stippvisite in die Vereinigten Staaten fahren?
Ich habe daran gedacht, meinen ganzen Kram (acht Gepäckstücke, zwei Schrankkoffer, drei Bücherkisten und Diverses!) von Neapel aus per Frachter ´rüberzuschicken und selber über Rom hinaufzufahren, und wenn Du Lust hättest, könnten wir doch wenigstens noch einmal an der Küste entlangfahren und Forte dei Marmi und Viareggio und all die Fleckchen, die wir gern haben, wiedersehen - einen letzten Blick. Ich denke nicht daran, mich um das Wetter zu scheren - ich weiß, es wird abscheulich sein. Ich verlange nicht von Dir, daß Du mich nach Marseille begleitest, wo mein Schiff abgeht, aber bis Genua??? Was hältst Du davon?« . . .
Der zweite Brief klang reservierter. Tom wußte auch, warum: er hatte ihr seit fast
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