Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
sentimentale Idiot hatte Mitleid mit ihr. Er konnte nicht hinter die Geräte blicken. Er konnte die Freiheit nicht riechen. Und ihm taten die Toten wirklich Leid.
Alles in allem war das Ergebnis nicht schlecht, und die Sache mit Anne war ein hübscher Bonus.
Er blieb stehen und blickte ins Schaufenster eines Sanitärgeschäfts. Falsche antike Wasserhähne und anderer Mist dieser Art. Badewannen mit Griffen für Alte und Behinderte.
Dumm.
Er dachte an Thornes winziges Apartment. Das Heim eines einsamen Mannes. Nein, kein Heim. Aber sauber und aufgeräumt – abgesehen von den leeren Weinflaschen. Er hatte gewusst, dass er in jener Nacht vor der Haustür im Vorteil sein würde. Wäre Thorne nüchtern gewesen, hätte er wahrscheinlich keine Chancen gehabt.
Langsam wurde es kalt. Er zog seinen Hut in die Stirn und ging zum U-Bahn-Eingang. Jetzt wollte er Fortschritte sehen. Mit Sicherheit hatte er etwas Unruhe in die Sache gebracht, und die Polizei würde Ergebnisse liefern müssen. Sollten doch die Profiler, oder wie sich diese überqualifizierten Zuhälter nannten, von einem »Hilferuf« oder dem »Wunsch, aufgehalten zu werden« sprechen, wenn es das war, womit sie ihre Hypotheken abbezahlen konnten. Thorne selbst würde sich keine Zeit für Psychogeschwätz nehmen, dessen war er sich sicher. Und jetzt, da er wusste, wie diese Frauen sich gefühlt hatten, bevor er Hand an sie gelegt hatte, würde er sich noch mehr anstrengen.
Er hatte Kinder wie Thorne in der Schule gekannt. Sie brauchten nur provoziert zu werden, und nichts konnte sie mehr zurückhalten. Kinder, die eine Schulbank aus dem Fenster werfen und Eichhörnchen auf dem Spielplatz umbringen würden, wenn man sie ein bisschen anstachelte – wenn man den richtigen Knopf drückte. Thorne war da nicht anders. Und jetzt hatte er ihm vors Schienbein getreten. Er hatte ihm einen Genickschlag verpasst. Jetzt würde Thorne nicht mehr zu bremsen sein.
Eine große, dünne Frau mit einem Kinderwagen überholte ihn kurz vor dem Fahrkartenautomaten. Er betrachtete von hinten ihren schlanken Hals, während sie in ihrer billigen Plastiktasche nach Kleingeld kramte und auf die Namen der U-Bahn-Haltestellen starrte, als wären sie in Chinesisch geschrieben. Vermutlich eine Alleinerziehende. Eine arme Kreatur, ausgelaugt und verzweifelt auf der Suche nach ein bisschen Trost. Vierzig Kippen am Tag und ein paar Valium, die ihren Schmerz betäubten und ihr über den Nachmittag halfen.
Mittlerweile zog er alle Frauen in Betracht, die er sah. Er konnte erkennen, was jede Einzelne von ihnen brauchte. Jede Einzelne von ihnen war … machbar.
»Schön, dich wieder hier zu haben, Tom.«
Tughans dünne Lippen legten sich zu dem zurecht, was als Lächeln durchgehen konnte. Thorne dachte, dass er aussah wie die Fratze eines mittelalterlichen Wasserspeiers. Holland machte sich rar, und Thorne setzte sich Tughan gegenüber hin. Die Kommentare der anderen Kollegen nahm er mit einem Nicken und einer fröhlichen Antwort entgegen; das Lächeln von einigen war sogar aufrichtig. Aber es gab auch mehrere Gesichter, die er weniger gern wieder sah.
»Wie geht’s deinem Kopf, Tommy! Jetzt weißt du, wie es sich anfühlt, Kumpel.«
Seine Kalendermädchen.
Ja, er wusste, wie es sich anfühlte, wenn einem die Kontrolle über den eigenen Körper genommen wurde. So oft hatte er sie bereits verloren, dass ihm diese Schwäche fast schon vertraut war, doch dieser Verlust ging Hand in Hand mit einem warmen, schläfrigen Gefühl, für das hauptsächlich der Alkohol sorgte. Der Wein vermischte sich mit etwas, das den Schmerz über die zertrümmerten Möbel oder die aufgekratzten Fingerknöchel milderte. Doch das Midazolam hatte ihn an Orte geführt, die er nie wieder in seinem Leben sehen wollte.
»Er hat uns alles genommen, was wir hatten, Tommy …«
»Ich wollte kämpfen …«
»Das wollten wir alle …«
»… um mein Leben kämpfen, Tommy.«
Tughans Mund bewegte sich, doch die Stimmen kamen von weit her.
Christine. Susan. Madeleine. Und Helen. Bis zur Bewusstlosigkeit mit Midazolam voll gepumpt und einem Monster ausgeliefert. Er war nur Geistern ausgesetzt. Den Erinnerungen von Geistern. Er dachte an Alison. Er musste sie sehen. Er war immer noch hier, und er wollte, dass sie es wusste. Er war immer noch hier, weil dies genau das war, was das Arschloch wollte. Er hatte das sofort erkannt und hasste ihn dafür, dass er die Macht hatte, ihn zu verschonen. Er hatte sich entschieden,
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