Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
den Wasserkocher an und wartete. Versuchte sich das Meer vorzustellen, wie die Wellen sanft den Strand erreichten. Wie er an sich herunter sah, braun gebrannt und zufrieden im Sand liegend, seine Sorgen in weite Ferne gerückt. Darin war er im Lauf der Jahre ziemlich gut geworden: Er hatte die Fähigkeit entwickelt, sich selbst zu verlieren und sich dabei zuzusehen, wie er woanders wieder auftauchte. Wo es sicher und ruhig war. Aber als das Wasser kochte, begann das Salzwasser zu brodeln, und das Meer wurde rau. Die Wellen wurden höher und brachen sich an seinem Strand, zwangen ihn, seinen Platz zu verlassen. Durchweichten den Sand …
Er durfte sich noch nicht entspannen. Noch nicht.
Er nahm seinen Tee mit ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett.
In dem Augenblick, als er die Zeitung gesehen hatte – das Foto von einem jungen Kerl namens Terry Turner unter der Schlagzeile –, war ihm klar gewesen, dass er Mist gebaut hatte. In nächster Zeit würde er nirgends hinfahren. Es nervte, alles neu überdenken zu müssen. Aber zu fahren fühlte sich falsch an. Dann hätte er sich nie mehr entspannen können.
Es gab nicht mehr viel, was in seinen Augen zählte, aber er hielt es nach wie vor für wichtig, seinen Job ordentlich zu machen.
Neunundzwanzigstes Kapitel
Es waren keine Dosen mehr in der Tüte.
Obwohl Thorne – soweit er das beurteilen konnte – so viel wie Hendricks getrunken hatte, ging es ihm deshalb nicht schlechter. Erschöpfung und Angst machten ihm noch immer zu schaffen, und er war ratlos. Aber zumindest war er im Augenblick nicht allein.
»Ich denke, ich geh jetzt«, sagte Hendricks wie auf ein Stichwort.
Thorne brummte und wartete. Es sah ganz so aus, als wolle es sein Freund vorerst beim Denken belassen. Der Regen hatte aufgehört, aber das Wasser lief vom Dach über den Fußweg und floss an ihm herab, als er sich an die Mauer lehnte.
»Zwischen uns und der Straße liegen nur zwei Monatsgehälter«, sagte er nachdenklich.
Hendricks wandte ihm den Kopf zu. »Ja …«
»Zwei Monatsgehälter. Zwei Monate. Das ist alles, was uns davor bewahrt, in einem Eingang zu schlafen.«
Thorne hatte Brendan darüber reden gehört. Daher ging er davon aus, dass Hendricks die Fakten bekannt waren.
»Natürlich hängt es von den Umständen ab«, sagte Thorne. »Das liegt auf der Hand. Ob man die richtige Familie hat, besser gesagt die falsche. Es läuft darauf hinaus, ob man die nötige Unterstützung hat, wenn man sie am meisten braucht. Verstehst du, was ich meine? Man verdient genug, um die Miete zu zahlen oder die Hypothek, es reicht fürs Essen und für den Ausgang. Aber die Rücklagen fehlen.
Man hat ordentlich Schulden auf der Visa-Karte und zahlt noch das eine oder andere ab. Und dazu kommen noch die Leasingraten fürs Auto. Und wenn man dann den Job verliert, ist man im Arsch. So unglaublich das klingt, du kannst in null Komma nix weg sein von der Bildfläche. Das ist dir vielleicht nicht gleich klar, aber dein ganzes Leben kann in diesen acht Wochen den Bach runtergehen.
Das ist kein Hirngespinst, Phil. So leben eine Menge Leute. Und ich rede nicht von den Armen, den Drogensüchtigen oder den Säufern. Nicht von den Leuten aus diesen tristen Dokumentarfilmen. Sondern von ganz normalen Durchschnittsbürgern. Von Durchschnittsfamilien, die sich im Handumdrehen auf der Straße wiederfinden, wenn sie Pech haben. In Obdachlosenheimen oder Notunterkünften.
Du hast genau zwei Monate. Normale Kündigungsfrist. Vielleicht springt das Sozialamt ein und zahlt deine Miete. Aber bis die Anträge durch sind und das Geld kommt, hat dich dein Vermieter auf die Straße gesetzt. Der lässt sich doch nicht für blöd verkaufen und wartet auf sein Geld. Vielleicht übernimmt das Sozialamt die Zinsen für deine Hypothek, hängt davon ab, wie großzügig deine Sachbearbeiter sind. Und die Banken werden schnell unangenehm, wenn die Schecks platzen.
Zwei Monate …
Und dann sind da noch die Schulden, die du auf deinen inzwischen zerschnittenen Kreditkarten angehäuft hast. Und das Auto geht flöten, geht mit Verlust flöten, weil du die Raten nicht bedienen kannst. Und es dauert noch Wochen, bis das Geld vom Sozialamt kommt. Also verlierst du alles, Stück für Stück: deinen Job, das Auto, die Wohnung und die Kreditwürdigkeit. Und die Frau und die Kinder, wenn es richtig übel kommt. Alles entgleitet dir oder wird dir mit Gewalt genommen. Wenn du dann gute Freunde hast oder eine Familie, die zusammenhält,
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