Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
kommen wir her?« und »Was passiert, wenn wir sterben?« und »Warum sehen Jungs und Mädchen da unten verschieden aus?«
Aber eine so schwierige Frage hatte Maggie Mullen bisher noch nicht beantworten müssen. »Passiert Luke auch nichts, Mum?«
Sie konnte nicht sagen, was sie mehr fertig machte: dass sie die Antwort nicht wusste oder dass sie unfähig war, das zu tun, was ihrer Meinung nach die meisten in ihrer Situation getan hätten: zu lügen, um ihre Tochter zu beschützen.
»Ich weiß es nicht, Spatz.«
Nicht dass Maggie ein Problem mit Lügen an sich gehabt hätte. Sie hatte keine Hemmungen zu lügen, wenn die Situation es gebot. Aber ihr war klar, dass sich Juliet gegen jeden unbeholfenen Versuch wehren würde, sie wie ein kleines Kind zu behandeln, sie vor der schmerzhaften Wirklichkeit zu beschützen. Doch manchmal war es schwer, den richtigen Ton zu treffen. Juliet war vierzehn und wirkte wie einundzwanzig, genauso wie sie wie vierzehn wirkte, als sie neun war. Sie gab Maggie seit Jahren Tipps, wie sie sich anziehen sollte, was sie essen sollte und welche ihrer Freunde die Mühe nicht wert waren. Weshalb es etwas seltsam wäre, sie jetzt nicht als Erwachsene zu behandeln.
Wo die Situation doch etwas so entsetzlich Erwachsenes hatte …
Und doch, irgendetwas in Juliets Augen und um ihre volle, feuchte Unterlippe erinnerte Maggie an eine Puppe, die Juliet ewig mit sich herumgeschleppt hatte. Am liebsten hätte Maggie Juliet mit aller Kraft an sich gedrückt. Sie wusste, wie sehr Juliet das brauchte.
»Wo ist Dad, Mum?«
»Er ist weg, Spatz. Ich weiß nicht, wann er zurückkommt.«
Vielleicht war es aber auch Maggie, die sich danach sehnte, in die Arme genommen zu werden. Die Trost suchte, während sie ihre Tochter tröstete. Sie hasste sich für den bösartigen Gedanken, der plötzlich da war. Dafür, dass sie ihm deshalb einen Vorwurf machte. Es war nicht gerecht, ihm einen Mangel an Mitgefühl vorzuwerfen. Angesichts der Umstände.
Wenn sie ihn aus den Augenwinkeln nur ansah, wenn sie ihn beobachtete, wenn er zur Tür hereinkam, sah sie doch, wie es auf ihm lastete. Ihn niederdrückte. Wenn er mit jeder Faser seines Herzens nur daran dachte, wo Luke sein mochte, dann konnte sie ihm das nur schwer vorhalten.
Und was immer da sonst noch war, was man ihm vor werfen konnte, wollte man reinen Tisch machen … du lieber Gott, sie brauchte nicht reden.
»Mum, wenn Luke tot ist …«
»Juliet!«
»Bitte, Mum, hör mal, ich hab da drüber nachgedacht. Wenn er tot ist, verlieren wir nur einen Teil von ihm, den Teil, der am wenigsten wichtig ist. So viel von Luke bleibt noch hier im Haus. Spürst du es nicht?«
»Er ist am Leben, mein Schatz …«
»Es ist okay, ehrlich. Ich will da jetzt nicht religiös werden oder so – du weißt, ich kann mit dem Getue nichts anfangen –, aber daran glaub ich wirklich. Und es hilft auch. Natürlich wär es traurig, und er würde mir immer fehlen, und alles Mögliche würde uns an ihn erinnern. Wenn wir etwas essen, was er gern mochte oder nicht ausstehen konnte, oder eine bestimmte Musik, aber die wirklich wichtigen Sachen bleiben bei uns. Die gehen nicht weg, versprochen.«
Seit Luke verschwunden war, hatte Maggie die Kunst gemeistert, geräuschlos zu schluchzen. Sie brauchte nur den Kopf abzuwenden und nach einer Zeitung zu greifen. Und obwohl ihr die Tränen über die Wangen liefen, drang kein Schluchzer nach draußen und kein Ringen nach Atem. Alles blieb tief verschlossen hinter ihrem Brustbein.
Sie weinte so, weil niemand es zu sehen brauchte. Weil es nichts brächte.
Jetzt weinte sie heimlich, um stark zu sein für die Tochter, die versuchte, für sie stark zu sein. Sie lauschte auf Juliets Worte, weil Tränen, die ihre Tochter nicht sehen konnte, unter ihrem Kinn entlang in ihr Nachthemd liefen. Sie lag mit ihrer Tochter, die sich etwas im Fernsehen ansah und die langen Beine über die ihren gestreckt hatte, auf dem Sofa und dachte daran, wie ihr Junge roch, an seine Haarwirbel im Nacken. An das Loch, das sich in ihrem Inneren aufgetan hatte, so roh und rot wie die Auslage eines Metzgers.
Es tröstete sie nicht im Geringsten, dass Juliet gerade alt und unabhängig genug war, um damit fertig zu werden, den Bruder und die Mutter zu verlieren.
Der Gedanke, sie zu verlassen, war kaum auszuhalten. Aber falls Luke etwas zustieße, war die Vorstellung noch schlimmer, nicht sofort zu ihm, ihrem Erstgeborenen, zu eilen.
Es gab so gut wie keinen Verkehr
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