Top Secret. Der Clan: Die neue Generation 1 (German Edition)
einplapperte.
Die banale Situation machte Ning klar, dass ihr Leben zwar völlig aus den Fugen geraten war, der Rest der Welt jedoch einfach weitermachte. In Dandong hatten die Kinder der GS18 weiter gelernt. Menschen waren zur Arbeit gefahren, hatten im Supermarkt eingekauft, verstopfte Waschbecken repariert und mit ihren Kindern geschimpft. Der Gedanke daran, dass die Normalität ohne sie weiterging, ließ Ning sich unbedeutend fühlen. Andererseits war es auch tröstlich, sich diese Art von Leben vorzustellen, anstatt an die Gefahren und Risiken in ihrem eigenen zu denken.
Nach einem Biskuitkuchen, zwei Folgen von den Simpsons auf Tschechisch und einer Nebenrolle bei einer imaginären Teeparty unter Teddybären und Puppen wurde es Zeit, die beiden kleinen Mädchen bei einer älteren Nachbarin abzuliefern und in Chun Heis Lieferwagen nach Westen zu fahren.
Die Fahrt entlang der Route 5 nach Westen dauerte etwas über eine Stunde. Bis ein paar Kilometer vor der Grenze fuhren sie fast nur durch Felder. Danach gab es Fast-Food-Restaurants, Tankstellen und etwas düster aussehende Gebäude mit vernagelten Fenstern und aufreizend gekleideten Mädchen vor den Türen.
»Die hübschesten Tschechinnen und Russinnen dürfen auf der Straße stehen«, erklärte Chun Hei. »Manche von ihnen bieten Sex an. Aber die meisten verteilen nur Werbung für die Bordelle. Dort drinnen findet man wesentlich mehr dunkelhäutige Mädchen: Chinesinnen, Vietnamesinnen, Pakistani.«
»Und wie viele Mädchen sind das insgesamt?«, fragte Ning, die eine fast unbekleidete Frau bemerkte, die sich in einen großen Audi beugte.
»Tausende, würde ich sagen«, antwortete Chun Hei. »Die Mädchen kommen und gehen. Wenn ein Bordell bei einer Polizeirazzia geschlossen wird, macht es in der nächsten Woche wieder auf.«
»Männer sind eklig«, fand Ning schaudernd. Sie bogen von der Straße ab und fuhren auf einen leeren Parkplatz. Das Gebäude war wie alle anderen auch: zweistöckig mit schmutzigen Vorhängen vor vergitterten Fenstern und blätternder grauer Farbe. Durch eine Schwingtür gelangten sie in eine Lobby mit Samtsofas und einem leichten Geruch nach Erbrochenem, aber von Mädchen war nichts zu sehen.
Chun Hei sprach einen Mann an, der hinter einer Maschendrahtabsperrung saß.
»Ich suche Derek.«
»Unten«, antwortete er.
Die gewundene Treppe bestand aus nacktem Holz und in der Luft hing Feuchtigkeit.
Chun Hei sah sich ein wenig misstrauisch nach Ning um. »Normalerweise sind Mädchen hier und Derek steht oben an der Tür.«
Eine verrottete Tür führte zu einem Keller mit schimmligen Wänden und Müll, der von Staubteppichen bedeckt war. Ning warf nur einen kurzen Blick in den Raum, doch sie sah genug, um Angst zu bekommen. Auf einen Stuhl gefesselt, saß ein kahlköpfiger Mann mit einer Barkeeperschürze. Sein Gesicht war blutig, und zwei große Gestalten beugten sich über ihn, während noch andere danebenstanden.
»Lauf, Ning!«, rief Chun Hei.
Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie einer der Kerle Chun Hei packte, sie ins Gesicht schlug und etwas auf Tschechisch schrie. Ning wollte ihr gerne helfen, aber die Männer waren viel zu groß.
Der Mann, der oben hinter der Absperrung gesessen hatte, wollte Ning oben an der Treppe abfangen. Sie rannte ihn mit solcher Geschwindigkeit um, dass er zurücktaumelte, aber obwohl er nicht so massig war wie die Kerle unten, hatte er doch keine Schwierigkeiten, sie zu packen und an die Wand zu schleudern.
Er schrie etwas auf Tschechisch, doch Ning hatte keine Ahnung, was er sagte. Sie riss sich los und erkannte eine Waffe unter seiner Jacke. Hätte sie sie eine Sekunde früher gesehen, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt, aber so sah sie eine Chance.
Ihr erster Schlag traf den Mann in die Rippen. Er stolperte zurück und verschaffte ihr somit genügend Raum, um richtig anzugreifen. Er war zu groß, als dass sie seinen Kopf hätte heftig genug treffen können, daher entschied sie sich für den Bauch. Nach fünf harten Schlägen innerhalb von zwei Sekunden hing ihr Gegner keuchend an der anderen Wand.
Obwohl sie seit einem Jahr nicht mehr trainiert hatte, hatte sie ihren Kampfinstinkt nicht verloren. Sobald der Mann nach vorne kippte, zielte sie auf seine Schläfe. Der dünnste Teil des Schädels war am verletzlichsten, und sie brauchte nur einen guten Schlag, um ihren Gegner bewusstlos auf den dreckigen Teppich zu strecken.
Boxhandschuhe schützen nicht nur denjenigen,
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