Topchter der Köingin Tess 1
Nacht geritten waren; ich hatte abgewartet, bis schon beinahe der Morgen graute, ehe ich neben der Straße zusammenbrach wie die Bettlerin, die ich zweifellos war. Vermutlich dachte er, ich hätte ihn am liebsten abgehängt. Damit hatte er recht. Der Mann war lästiger als eine Klette, aber ich hatte mich mit seiner Gegenwart abgefunden: Ich würde es mit ihm aushalten, bis ich Kavenlow fand und der Kanzler ihn ausbezahlte und dann »ermunterte«, uns zu verlassen.
Ruß stolperte, und ich verzog das Gesicht, als von dem Stoß der Schmerz in meinen verkrampften Knien aufflammte. Ich war hungrig und erschöpft, und vom viel zu langen Reiten tat mir alles beinahe unerträglich weh. Doch ich würde Schoh aus den Kielgruben schaufeln, ehe ich ein Wort zu Duncan sagte. Ich hatte heute schon mehrmals angehalten, um meine Beine zu bewegen, unter dem Vorwand, nicht vorhandene Steine aus Ruß’ Hufen zu entfernen oder sie zu tränken. Duncan schien es widerlich gut zu gehen, bequem in meinem Sattel; vermutlich war er außerdem lange Reisen gewohnt.
Ich strich mir eine Locke aus den Augen und steckte sie hinters Ohr. Die ständigen Erschütterungen hatten meinen Knoten gelockert, und als ich mein Haar zum dutzendsten Mal an diesem Tag neu aufsteckte, bemerkte ich ein Ahornblatt, das auf einen entrindeten Zweig gespießt war. Kavenlow hatte das getan. Ich folgte seinen Wegweisern schon seit Sonnenaufgang, wovon Duncan jedoch nichts ahnte. Eine der vielen Varianten des Versteckspiels, die Kavenlow sich ausgedacht hatte, machte sich auf ungewöhnliche Weise bezahlt.
Der Zweig, an dem die Markierung steckte, zeigte in die Richtung, die er genommen hatte. Die Höhe, in der das Blatt angebracht war, sagte mir, dass er zu Pferde unterwegs war. Ein auf dem Kopf stehendes Blatt bedeutete, dass er sich hier eine Weile aufgehalten hatte und dann weitergezogen war. An einer solchen Markierung waren wir gerade vorbeigekommen. Obwohl ich ein flottes Tempo anschlug, war er mir immer noch fast einen ganzen Tag voraus. Ich würde ihn niemals einholen, ehe Garretts Meuchler ihn fand. Aber Kavenlow hatte mich zwei Jahrzehnte lang am Leben erhalten. Ich musste daran glauben, dass er einen einzelnen Misdever Soldaten überleben konnte.
Ich hatte besonders gut auf die Markierungen geachtet, weil ich vermutete, dass er irgendwann von diesem Weg abgewichen und nach Südosten weitergeritten war. Saltolz war ein kleines Hafenstädtchen, und obwohl man mehrere Tage einsparen konnte, indem man über die große Bucht zwischen uns und dem Berg namens Vogelinsel segelte, war ich sicher, dass Kavenlow den längeren Landweg gewählt hatte, weil er das Wasser verabscheute.
Der Gedanke, dass ich lieber hätte versuchen sollen, eine Garnison zu befreien, statt Kavenlow hinterherzujagen, ging mir wieder einmal durch den Kopf, und ich verwarf ihn rasch. Damit würde ich einen bewaffneten Angriff von Garretts Armee herbeiführen, der viele Soldaten und Bürger das Leben kosten könnte. Garrett war der Einzige, den ich töten wollte, und mit Kavenlows Unterstützung und politischem Geschick, das König Edmund davon überzeugen würde, dass der Tod seines Zweitältesten Sohnes gerechtfertigt war, würde ich auch genau das tun.
Ich erschauerte in der heraufziehenden abendlichen Kühle. Die Sonne war hinter den Bäumen verschwunden, und es wurde allmählich dunkel. Wir ritten an einer weiten Wiese entlang, die schon im grauen Halbdunkel lag. Ich warf einen verärgerten Blick auf Duncan hinter mir, lenkte dann Ruß vom Pfad ab und auf die Wiese.
»Du machst jetzt schon halt?«, fragte er. »Gestern bist du fast bis zum Morgengrauen durchgeritten. Was ist mit den hundert Männern, die dir auf den Fersen sind?«, höhnte er. »Weil du dein eigenes Pferd gestohlen hast und so weiter.«
»Ich habe Ruß nicht gestohlen«, erwiderte ich knapp. »Ich habe für sie bezahlt.«
»Und deshalb musste ich dich aus der Stadt hinausschmuggeln, ja?«
Mein Atem beschleunigte sich, aber ich versuchte, den Mann zu ignorieren. Ich wurde nicht von hundert Männern verfolgt. Mich jagte nur einer: Jeck. Bedrückt verlagerte ich das Gewicht, und Ruß blieb gehorsam stehen. Als meine Füße den Boden berührten, gaben meine Knie vor Schmerz beinahe nach. Ich klammerte mich an dem Reitkissen fest und atmete langsam und flach. »Ich lagere dort«, sagte ich und deutete auf den Rand der Wiese.
Duncan schwang sich vom Pferd – ich hatte heute festgestellt, dass er den Wallach Tuck
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