Tor der Daemmerung
nicht bei dir bin.«
»Ich halte das immer noch für überflüssig, Kanin.«
Er bedachte mich mit einem mitleidigen Blick. »Vielleicht wird es so kommen, wie du sagst. Mag sein, dass der Junge mich noch überraschen kann. Aber ich habe viel zu lange gelebt, um so etwas dem Zufall zu überlassen, insbesondere wenn es dabei um Verrat durch Menschen geht. Haben sie nichts zu verlieren, aber nur das Geringste zu gewinnen, kann man ziemlich sicher mit ihrer Treulosigkeit rechnen. Und nun versprich mir, dass du nicht versuchen wirst, das Krankenhaus zu verlassen.«
»Und wenn ich rausgehen muss?«
»Entweder du bleibst hier oder du gehst, aber dann brauchst du gar nicht erst wiederzukommen. Entscheide dich.«
»Na schön.« Mit einem wütenden Blick gab ich nach. »Ich werde nicht versuchen abzuhauen.«
»Verzeih mir, wenn ich dir das nicht unbesehen glaube«, erwiderte Kanin mit eisiger Stimme. »Versprich es mir. Schwörst du es?«
»Ja!« Knurrend bleckte ich die Zähne. »Ich schwöre.«
Mit einem knappen Nicken wandte er sich ab. Ich sah zu, wie er im Aufzugschacht verschwand, während ich gleichzeitig versuchte, meine tobenden Emotionen unter Kontrolle zu bekommen: Wut, Frustration, Enttäuschung, Trauer. Ich hasste Stick und hatte im nächsten Moment doch fast Verständnis für seine plötzliche Furcht. Es war verletzend und falsch, vor allem wenn man bedachte, was ich alles für ihn getan hatte, aber ich konnte ihn auch verstehen. Er hatte lediglich darauf reagiert, dass in seinem Zuhause plötzlich ein Vampir aufgetaucht war. Wäre er spurlos verschwunden und unvermittelt als Blutsauger wieder aufgetaucht, hätte ich mich vielleicht ähnlich verhalten. Oder ich hätte meinen ersten Impuls unterdrückt und versucht, mit ihm zu reden – um der alten Freundschaft willen. Keine Ahnung. Aber ich war mir absolut sicher, dass Kanins Reaktion übertrieben war. Für seine Warnvorrichtungen und sein Verbot, das Krankenhaus zu verlassen, gab es überhaupt keinen Grund.
Erst nachdem er weg war, fiel mir dieser seltsame Vampir wieder ein, dem ich in der alten Schule begegnet war, der mit den toten Augen und dem Furcht einflößenden Lächeln. Einen Augenblick dachte ich darüber nach, ebenfalls nach oben zu klettern und Kanin zu warnen, aber ich hatte ihm schließlich versprochen, das Krankenhaus nicht zu verlassen. Außerdem war Kanin ein großer, erfahrener Vampir. Er konnte gut auf sich selbst aufpassen.
Also übte ich mich im Schwertkampf und grübelte über Stick nach und darüber, was ich hätte anders machen können. Anschließend wanderte ich ziellos durch die Gänge und wartete darauf, dass mein Mentor zurückkehrte.
Aber Kanin kam in dieser Nacht nicht zurück.
9
Voller Panik wachte ich auf und fletschte zischend die Zähne, während der Albtraum langsam vor der Realität verblasste. Zum ersten Mal, seit ich ein Vampir war, hatte ich geträumt: von finsteren Tunneln, verschlungenen Korridoren und etwas Furchtbarem, das sich in ihnen versteckte und mich verfolgte. Immer noch spürte ich die kalte Angst, während das unbekannte Böse immer näherkam, und dann den brennenden Schmerz, als die Kreatur endlich zuschlug, doch nie sah ich ihr Gesicht. Es war genug, um mich aufzuwecken, kam mir jetzt aber doch recht merkwürdig vor. Wieso konnten Tote überhaupt träumen? Das musste ich Kanin irgendwann noch fragen.
Kanin. Ich stand auf, schnappte mir mein Schwert und lief in sein Büro hinüber, in der Hoffnung, ihn gelassen an seinem Schreibtisch zu sehen, wo er höchst effizient seine Aktenstapel durcharbeitete, wie immer eben.
Aber das Arbeitszimmer war leer. Es lag auch keine Nachricht auf dem Tisch, die mir meine heutigen Aufgaben übermittelte. Ruhelos wanderte ich durch die Gänge und spähte in jedes Zimmer und jede Ecke, die ich eventuell übersehen hatte. Nichts. Keine Spur von ihm, nirgendwo. Er war tatsächlich verschwunden.
Hatte er das womöglich absichtlich getan? Vielleicht hatte er letzte Nacht gar nicht vorgehabt zurückzukommen? Hatte er die Nase voll von seiner sturen, launischen, unmöglichen Schülerin und war zu der Erkenntnis gelangt, dass es Zeit wurde, sich ihrer zu entledigen? Ich schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht Kanins Art. Er war kalt, mitleidslos, abgebrüht und manchmal verdammt unheimlich, aber er war kein Lügner. Wenn er nicht hier war, war er noch irgendwo da draußen. Verletzt? Gefangen?
Tot?
Hör auf damit , ermahnte ich mich. Nur weil Kanin nicht hier im
Weitere Kostenlose Bücher