Torso
gewechselt.«
»Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen, das Rückschlüsse auf ein Motiv für diese Entführung zulässt?«
»Nein«, sagte die junge Frau. »Ich möchte nun auch nichts mehr sagen. Sie wissen, wir sind keine unbedeutende Familie, und wir wollen nicht in die Bild-Zeitung kommen. Mein Vater wird Ihnen einen Anwalt nennen, der Ihnen alle Fragen beantworten wird.«
»Hier sind keine Journalisten, Frau Zieten«, sagte Udo Brenner verärgert. »Wenn wir den Täter fassen wollen, sind wir auf Ihre Mithilfe angewiesen.«
»Aber Sie haben den Mann doch offenbar schon? Bitte lassen Sie mich nach Hause. Ich möchte erst mit meinem Vater sprechen. Vorher werde ich keine weiteren Aussagen machen.«
Sina verließ den Sanitätswagen und machte sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg zu der Ruine. Sie durchquerte das Erdgeschoss und folgte dem Lichtschein, der aus dem Kellereingang kam. Acht Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen waren damit beschäftigt, Spuren zu sammeln. Sie fragte, ob sie sich ein wenig umschauen könnte, und mit Ausnahme des großen Kellerraumes, wo der Entführer wohl die Leichenzerstückelungen vorgenommen hatte, wurde ihr das gewährt.
Sie spazierte durch die Gänge, fand einen Raum mit einem Generator, stand eine Weile ratlos vor Inga Zietens chemischer Toilette, musterte die Proviantpakete, die Nische in der Wand, die als Schlafstätte hergerichtet worden war. Offenbar war ein längerer Aufenthalt für die Gefangene geplant gewesen.
Als sie wieder auf den Gang hinausging, stieß sie fast mit Udo zusammen. Sie setzten ihre Besichtigung gemeinsam fort, betrachteten von der Schwelle aus, wie die Tatortleute den Inhalt der Kühltruhe Stück für Stück auf dem Seziertisch ausbreiteten und fotografierten. Sina erkannte einen menschlichen Unterschenkel, einen Arm und Gefrierbeutel mit nicht identifizierbarem Inhalt. Sie konnte dem Schauspiel nicht viel abgewinnen und betrat den Raum direkt neben dem großen Keller. Ein ekelhafter Geruch schlug ihr daraus entgegen. Der Boden war mit Exkrementen beschmiert. Sina verspürte eine immer größere Abneigung gegen diesen Ort. Was war dies nur für ein schauderhafter Keller. Die Räume waren sicher schon lange nicht mehr genutzt worden. Der Entführer hatte sie nur notdürftig hergerichtet. Der Entführer? Zollanger! Sie musste sich das immer wieder in Erinnerung rufen, so absurd kam es ihr vor. Aber warum? Warum hier? Hatte er diesen Ort gekannt? War er früher einmal hier gewesen? Erichs Sonnenstudio? Was hatte der Mann damit gemeint?
Sie kehrte noch einmal zum Generatorraum zurück. Irgendetwas war ihr dort aufgefallen. Sie öffnete den Verschlag und schaute hinein. Auf dem Boden stand der Stromgenerator. Offenbar ein neues Gerät. Aber was war das für ein Raum? Er unterschied sich von den anderen. Sie leuchtete die Wände ab. Dann sah sie es. Die Wände waren nicht gemauert. Es hingen Platten daran. Graugrün überzogene Platten. Sie ging näher hin und strich mit der Hand darüber. Feiner Staub rieselte an der Stelle zu Boden, wo sie die Platte berührt hatte. Sie klopfte dagegen, um Aufschluss über das Material zu gewinnen. Es klang dumpf.
»Es ist Blei«, sagte Udos Stimme hinter ihr. »Hier. Schau.«
Er ritzte mit seinem Autoschlüssel mühelos eine tiefe, schimmernde Kerbe in die Oberfläche.
Sina drehte sich zu ihm um.
»Blei? Aber wozu …?« Doch dann blieb ihr der Satz im Hals stecken. Erichs Sonnenstudio! Zum Teufel noch mal! War das hier eines der geheimen Stasi-Folterlager, wo besonders missliebige Regimegegner verstrahlt wurden, bevor man sie für viel Geld in den Westen entließ? War Zollanger früher einmal hier inhaftiert gewesen? Seine Blutkrebserkrankung! Sein Amoklauf vor zehn Monaten. Und jetzt diese Kamikaze-Aktion mit Leichenteilen? Die Schießerei in seiner Garage! Sina fühlte plötzlich einen furchtbaren Druck im Kopf. War das der Schlüssel? War Zollanger möglicherweise dabei, alte Rechnungen zu begleichen? Mit Leuten, von denen sie alle gar nichts wussten?
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56
A ivars traf gegen zwanzig Uhr am Block D ein. Er ließ sich die Örtlichkeiten erklären. Dann gab er den beiden Männern, die das Mädchen beschattet hatten, sein Handy und seine Brieftasche und befahl ihnen, in die Stadt zurückzufahren und die üblichen Vorbereitungen zu treffen. Die beiden wussten, was das bedeutete. Aivars würde in Kürze bei ihnen auftauchen, seine Sachen holen und bis auf weiteres verschwinden. Das war nach
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