Torso
Presseaufmerksamkeit erregt. Zwei Todesopfer. Eine schwer verwundete Tatverdächtigte und ein ebenfalls tatverdächtiger Asylant, beide als asozial einzustufen. Der ganze Ablauf wirft sehr viele Fragen auf. Hauptkommissar Zollanger hat sein Ende sicher nicht so geplant. Aber seine ganze Aktion war offenbar darauf angelegt, auf komplizierte politische Vorgänge hinzuweisen, über die Herr Zieten Ihnen gleich noch Genaueres sagen wird. Nach dem Stand unserer Ermittlungen wusste er sehr wohl, dass ihm ein privater Ermittler auf den Fersen war. Wie ich berichtet habe, hat Herr Zollanger in seiner Garage mehrmals geschossen. Wir wissen nicht, auf wen. Aber wir vermuten, dass ihn die gleiche Person verfolgte, die ihn später in Reinickendorf erneut aufgespürt hat. Dort jedoch trug Herr Zollanger seine Dienstwaffe nicht mehr bei sich. Sie ist auch nirgendwo in diesem Keller gefunden worden. Es ist also durchaus denkbar, dass Herr Zollanger seinen Tod bewusst einkalkuliert hat. Als den ultimativen symbolischen Akt sozusagen. Die Psychologin, die ihn behandelt hat, unterstützt diese Hypothese.«
Einer der Staatssekretäre schüttelte skeptisch den Kopf.
»Ist so etwas wirklich vorstellbar?«
Zieten kam Frieser zuvor. »Bis vor kurzem war unvorstellbar, dass ein paar Fanatiker vier Flugzeuge entführen und damit Kamikaze-Angriffe auf amerikanische Städte fliegen. Die Symbolwirkung solcher scheinbar sinnlosen Aktionen kann man gar nicht überschätzen. Und hier ist es ebenso oder könnte sich so auswirken.«
Der Vergleich wirkte ein wenig weit hergeholt, aber Zieten legte sofort nach.
»Meine Damen und Herren, ich fürchte, Sie begreifen die Tragweite der Situation noch immer nicht. Meinen Sie, ich habe im Nervenkrieg um die Entführung meiner Tochter so lange stillgehalten, weil ich mich vor irgendwelchen Klatschgeschichten gefürchtet hätte? Ich hatte
Ihre
Interessen im Auge, die Zukunft dieser ganzen Stadt. Sie alle standen oder stehen im Fadenkreuz dieses Mannes. Wenn Sie morgen der Presse auch nur den kleinsten Hinweis auf die wahren Motive dieses Hauptkommissars geben, so werden Sie eine öffentliche Debatte in Gang setzen, die Sie allesamt unter sich begraben wird. Das kann ich Ihnen garantieren.«
Britta Jungblut nickte ernst. »Können Sie bitte deutlicher werden, Herr Zieten? Meine Kollegen sind nicht so gut informiert.«
»Ja, das kann ich. Sie alle, vielleicht nicht Sie persönlich, aber Ihre Parteien, haben vor sechs Jahren beschlossen, dass diese Stadt nach vierzig Jahren Teilung und Schattendasein einen gewaltigen Sprung nach vorne machen soll. Sie haben unter anderem mich um Rat gefragt, wie so etwas finanziell zu bewerkstelligen sei. Wir sind hier unter uns, also darf ich Klartext sprechen. Wer da zur Bank kam und Milliarden wollte, war ein zerlumpter Habenichts. Ihre Stadt hätte einer realistischen Kreditprüfung niemals standgehalten. Und das wurde Ihnen damals auch gesagt. Aber Sie wollten das nicht einsehen. Also haben Sie Druck ausgeübt, massiven Druck auf allen Ebenen. Und Sie haben durchscheinen lassen, dass Sie auch bereit seien, verfassungsrechtlich fünfe gerade sein zu lassen, wenn es nur gelänge, auf das große Parkett zu kommen. Der Preis war Ihnen egal. Das Risiko, zwei oder drei zukünftige Generationen finanziell zu ruinieren, erschien Ihnen nicht zu hoch.«
Zieten schaute in die Runde. Die Gesichter von Britta Jungbluts Amtskollegen wirkten plötzlich noch irritierter als nach dem Anblick der Tatortfotos. Frieser war verblüfft über die Richtung, die Zietens Argumentation eingeschlagen hatte. Aber bevor er lange darüber nachdenken konnte, fuhr Zieten schon fort:
»Natürlich darf man die Euphorie nicht vergessen, die damals allenthalben herrschte. Der Größenwahn war ja epidemisch, auf den Finanzmärkten allgemein, sogar bei den einfachen Menschen, die plötzlich Wertpapiere kauften wie die Verrückten, angesteckt vom allgemeinen Fieber. Die Gier war überall maßlos. Bis zum März vorletzten Jahres, dem Jahr des größten und übrigens bestverschwiegenen Börsencrashs der Geschichte. Ich will es kurz machen, meine Damen und Herren: Ihre Stadt ist bankrott. Sie haben durch Ihre Finanzpolitik eine Situation geschaffen, die Sie auf legalem Weg nicht mehr werden meistern können. Sie stehen wenige Schritte vor dem Abgrund, und Sie haben gar keine andere Wahl, als Ihre Bevölkerung auf Jahrzehnte hinaus schrittweise massiv zu enteignen.«
Einer der Staatssekretäre schnaubte
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