Torso
überhaupt kaum etwas tun können.«
Sina schaute grimmig vor sich auf den Tisch. Dann sagte sie: »Wie sollen wir uns das also vorstellen: Irgendwann letztes Jahr erfährt Martin, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist. Kurz darauf rutscht ihm bei einer Festnahme die Hand aus.«
»Ja«, sagte Udo. »Das weißt du ja alles. Daraufhin wird er vorübergehend beurlaubt, was aber nur dazu führt, dass sich sein Gemütszustand verschlimmert. Das Bewusstsein, bald sterben zu müssen, setzt Allmachtsphantasien und diffuse Rachegefühle in ihm frei. Er will nicht geräuschlos abtreten, sondern ein Zeichen setzen, seine Verachtung für diese Welt ganz krass bekunden. Er wälzt Kunstbände und Emblemhandbücher und stößt auf mittelalterliche Moralappelle, die er als Vorlage für seine grotesken Leichenarrangements benutzt.«
»Das kannst du erzählen, wem du willst«, brummte Sina. »Das glaube ich dir nicht.«
»Mir? Mir brauchst du gar nichts glauben. Das sind verdammt noch mal die Fakten. Die Kunstbände aus der Staatsbibliothek liegen noch in seiner Wohnung, Sina. Zollanger ist im Frühjahr in Italien gewesen. Frieser vermutet, dass Zollanger das Gemälde der schlechten Regierung dort gesehen hat. Die Psychologin, die ihn behandelt hat, hat Zollanger einen zutiefst autoritären Charakter attestiert. Er habe sich nach einfachen Lösungen gesehnt, die Wende nicht verkraftet. Du weißt ja selbst, wie sehr er den Westen verachtet hat, wie dekadent und korrupt er alles fand. Weißt du, was in manchen Leuten gärt, die einmal an den Sozialismus geglaubt haben? Die fühlen sich doppelt und dreifach verraten …«
»Also gut«, lenkte Sina ein. »Er dreht durch, besorgt sich eine Frauenleiche, ein Lamm und eine Ziege und deponiert seine Torsi in Gebäuden, die alle zum Geschäftsimperium von Hans-Joachim Zieten gehören. Um die Sache abzurunden, entführt er auch noch dessen Tochter. Warum tut er das? Was bezweckt er damit?«
Brenner musste passen. »Das musst du einen Psychiater fragen. Ich habe keine Ahnung. Zieten ist ein stadtbekannter Banker und einflussreicher politischer Strippenzieher. Ich glaube nicht, dass es Zollanger um Zieten als Person ging. Die Psychologin sagt, er habe vermutlich eine Rachephantasie ausleben, dem seiner Ansicht nach dekadenten, korrupten Westen einen Spiegel vorhalten wollen. Du weißt doch so gut wie ich, wie Martin dachte und fühlte. Wie ihn das alles anwiderte. Er fand doch alles nur noch obszön. Die Armut und den Reichtum. Die Gier. Die Gefräßigkeit überall. Auf allen Ebenen. Ihm wurde ja schon fast schlecht, wenn er nur einen ALDI -Flyer sah oder Reklamezettel für Flatrate-Saufen.«
»So weit wir wissen«, fuhr Sina beharrlich fort, »wurden nie irgendwelche Forderungen an Zieten gestellt.«
»Was die Annahme bestätigt, dass es einfach eine Wahnsinnstat gewesen ist. Kein nachvollziehbares Motiv, sondern ein rein symbolischer Amoklauf.«
»Meinetwegen«, räumte Sina widerwillig ein. »Aber Zieten hat seine Tochter nicht einmal vermisst gemeldet. Nur Frieser wusste überhaupt von der Entführung. Findest du das normal?«
»Wie ich schon sagte. Ich finde bei Martin recht wenig normal.«
»Ich rede nicht von Martin. Die ganze Kette von Vorfällen stinkt doch zum Himmel. Das Überwachungsvideo ist erst verschwunden, dann taucht es plötzlich bei Frieser auf. Der Mietwagen führt uns direkt zum Versteck des entführten Mädchens. Sie identifiziert Zollanger, verweigert aber ansonsten die Aussage.«
»Worauf willst du hinaus, Sina?«
»Ich will hinein, Udo. In den Kern dieses ganzen Theaters. Was wollte Martin? Was verschlägt ihn plötzlich in diesen Keller in Reinickendorf? Wie sind er und das Mädchen dort hingekommen? Und wie hat Ozols sie dort gefunden?«
Udo schaute ungeduldig in Richtung Küchentür und griff dann nach einer Grissini-Stange.
»Wir arbeiten daran. Bis jetzt wissen wir nur, dass das verletzte Mädchen letzte Woche versucht hat, mit Martin in Kontakt zu treten …«
Er unterbrach sich kurz, sprach dann aber doch weiter: »… sie muss auch bei ihm in der Wohnung gewesen sein, denn wir haben ihre Fingerabdrücke in seinem Gästezimmer gefunden.«
»Was?«
»Ja. Vielleicht ist
sie
ja bei Zolli eingebrochen.«
»Weiß man denn, was sie an jenem Freitag von ihm wollte?«
»Tanja kann sich erinnern, dass sie am Morgen, als wir Torso eins gefunden haben, in der Keithstraße war. Zollanger hatte einen Termin mit ihr gemacht. Sie war wegen ihres Bruders
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