Torso
verließ das Dienstgebäude, ging die paar Schritte bis zur Kurfürstenstraße und winkte ein Taxi heran.
»Zur Staatsbibliothek bitte.«
Der Wagen fädelte sich in den Verkehr ein. Er wurde einfach nicht schlau aus dieser Stadt. Wenn man darin herumfuhr, hatte man das Gefühl, als lebten hier nur Vollidioten. Oder als gingen zumindest die Werbetexter davon aus, dass nur Kretins ihre Anzeigen lasen. Geiz ist geil, rülpste ihm ein Banner entgegen. Ich bin doch nicht blöd, furzte das nächste. Der neueste amtliche Slogan für die Stadt war schlechterdings genial. Arm aber sexy. Er fragte sich, was nur den Erfolg dieses blökenden Mantras ausmachte. Mit welchen anderen Slogans war der Zeitgeist wohl schwanger gegangen, bevor er mit dieser teuflischen Missgeburt niedergekommen war? Dumm aber dufte? Verkackt aber knorke? Verarscht aber Party? Strohdoof aber happy? Wenigstens war seit dem Börsenkrach endlich die feiste Visage seines ehemaligen Lieblingsschauspielers aus dem Stadtbild verschwunden. Wenn Zollanger allerdings die Augen schloss, sah er sie oft noch vor sich, riesengroß an allen Wänden der Stadt, wo diese Kanaille mit aasigem Lächeln dem Volk empfohlen hatte, die T-Aktie zu zeichnen.
Wenige Minuten später tauchte der beige schimmernde Bibliotheksbau mit seiner Paillettenfassade vor ihm auf. Aber Zollanger nahm ihn kaum wahr. Er sah etwas anderes. Die umwickelten Hinterbeine eines Lamms, das schwarze, reißfeste Textilklebeband und die daraus hervorstehende Messerklinge. Dass ausgerechnet er in diesem Fall ermitteln sollte! Ja, dass vielleicht er selbst gemeint war! Es wäre die verrückteste Erklärung von allen. Und zugleich die plausibelste.
Obwohl er die Bücher schon vor zwei Stunden per Internet bestellt hatte, waren die Bände noch nicht an der Buchausgabe angekommen.
Außenstandort,
meldete der Computer auf seine Nachfrage an einem der Terminals in der Eingangshalle.
Ausgabe Leihstelle ab 12:30 Uhr.
Er verbrachte die Wartezeit damit, in der Cafeteria der Bibliothek einen Kaffee zu trinken. Das Krangewirr auf dem Potsdamer Platz war fast verschwunden, ebenso wie die Abraumhalden zwischen den fast fertiggestellten Bürotürmen. Zollangers Blick verlor sich rasch zwischen vereinzelt noch herumstehenden Schuttmulden, die sich in den nagelneuen Glasfassaden spiegelten. Aber er nahm sie gar nicht recht wahr, denn das Gebäude, das er vor sich sah, war viele hundert Jahre alt und befand sich über tausend Kilometer entfernt. Er schloss die Augen und versuchte, in Gedanken darin herumzuspazieren. Es war doch erst ein halbes Jahr her, dass er dort gewesen war. Aber die Einzelheiten waren zu verschwommen. An die Ziege konnte er sich erinnern, die der zentralen Figur des Wandgemäldes zu Füßen gelegen hatte. Daneben waren drei weitere Figuren zu sehen gewesen. Und das Lamm? Eine der Figuren hatte es auf dem Schoß gehabt. Aber welche war es gewesen.
Tyrannis? Fraus? Proditio?
Das waren die Namen, die ihm jetzt wieder einfielen. Doch wozu gehörte das Lamm?
Als er aus seiner Grübelei wieder erwachte, war es schon Viertel vor eins. Sein Kaffee stand unberührt vor ihm. Er nippte daran, schob das lauwarme Zeug von sich weg und ging zur Leihstelle. Die großformatigen Bände erwarteten ihn auf einem der Metallregale. Er hatte vorgehabt, sie sich hier anzuschauen. Aber jetzt änderte er seine Meinung. Er fuhr in seine Wohnung, ging in sein Arbeitszimmer und legte alles auf dem Schreibtisch ab.
Er brauchte das Wandgemälde nicht lange zu suchen. Band II der Ausgabe widmete ihm ein ganzes Kapitel. Schon der erste Blick auf die beidseitige Abbildung bestätigte ihm seine Ahnung: Da war
Tyrannis,
die zentrale Figur mit blauem Mantel und goldfarbener Schärpe. Zu ihren Füßen kauerte die Ziege. Die zweite Figur links der Tyrannenfigur hielt das Lamm.
Proditio,
stand auf dem Fries dahinter. Brav saß das Lamm auf dem Schoß der Figur, die Unschuld selbst. Doch das Tier hatte keine Hinterbeine. Stattdessen begann sich der Leib dort zu deformieren. Die Figur, die das Lamm auf dem Schoß hielt, sah davon nichts, war ahnungslos, dass kurz hinter der Stelle, wo ihre Hand das weiche Fell kraulte, der Lammkörper schwarz und hart wurde, sich verjüngte, einschnürte, krümmte, im Rücken der Figur aufragte, um dort in einem giftigen Skorpionstachel zu enden, der im nächsten Moment zustechen würde.
Das war also tatsächlich an ihn gerichtet, dachte Zollanger mit einer Mischung aus Schaudern und
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