Torso
Respekt.
Proditio.
Verrat!
Er erhob sich, ging im Zimmer auf und ab und blieb schließlich unschlüssig vor seinem Aktenregal neben der Tür stehen.
Billroth. Zieten. BIG . Hilger.
Wenn er das nur endlich von der Seele hätte. Er kannte die Dokumente so gut wie auswendig. Er hatte ja fast ein Jahr lang gesammelt. Aber wozu? Warum hatte er sich überhaupt so intensiv mit Anton Billroths Hinterlassenschaft beschäftigt? Um über seinen Ausraster hinwegzukommen? Um sich etwas zu beweisen? Er wusste doch, dass er nichts unternehmen würde. Es war sinnlos. Die Sache war zu groß. Zu unübersichtlich. Selbst wenn das Mädchen jetzt darin herumstocherte. Was würde schon dabei herauskommen. Verständlich, dass sie den bizarren Spuren ihres komplizierten Bruders folgte. Aber was konnte sie schon bewirken? Wenn nicht einmal er selbst verwertbare Beweise gefunden hatte. Oder sollte er sie zu ihrer eigenen Sicherheit im Auge behalten? Hatte ihr Bruder ihr möglicherweise Informationen gegeben?
Geschwister!, dachte er grimmig. Besser, man hatte keine.
Er zog den Ordner mit der Aufschrift »Zieten« halb heraus und stieß ihn dann mit einer Mischung aus Wut und Resignation geräuschvoll wieder an seinen Platz zurück. Dann ging er an seinen Schreibtisch und starrte mit zusammengepressten Lippen das Schaf mit dem Skorpionschwanz an. Was immer er jetzt auch tat: Er hatte ein verdammt großes Problem am Hals.
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19
U lla Zieten hatte ihr Montagsprogramm weitgehend hinter sich gebracht. Sie war spät aufgestanden, hatte im Wintergarten ihres Hauses gefrühstückt und sich über die Morgensonne gefreut, die eine halbe Stunde lang durch die Scheiben fiel, bevor heraufziehende Wolken das schöne Schauspiel beendeten. Ihr Mann war längst im Büro, so hatte sie die geräumige Herrlichkeit der Bankiersvilla für sich. Um halb zwölf lenkte sie ihren Audi TT Richtung Innenstadt, gab den Wagen im Kempinski Hotel zum Waschen, was nicht unbedingt notwendig, aber praktisch war, weil sich auf diese Weise die lästige Parkplatzsuche erledigte. Außerdem hatte sie eine Schwäche für den herben Duft des Lederreinigungsmittels, das dort verwendet wurde.
Ulla Zieten verbrachte eine Stunde bei ihrer Nagelspezialistin, schaute dann bei Caltus und Spranger herein, einem neuen Modegeschäft, über dessen Qualität und Güte sie sich noch keine endgültige Meinung gebildet hatte, weshalb sie regelmäßig die neuesten Auslagen prüfte. Dann verspürte sie einen leichten Hunger, vermutlich ausgelöst durch Lily’s Austernbar, an der sie vorübergekommen war. Zwölf fines de claire und ein Gläschen Sancerre später machte sie sich auf den Weg zu Genzman, um Gardinenstoff anzuschauen, und schließlich blieb sie wie üblich eine ganze Weile vor den Cartier-Vitrinen stehen.
Ulla Zieten brauchte nichts weniger als neue Gardinen. Und was sie mit der fünften oder sechsten Cartier-Uhr hätte anfangen sollen, war ebenfalls ihr Geheimnis. Aber darum ging es nicht. Schönheit verdiente einfach ihre Beachtung. Teure Schönheit.
Das Geschäft von Cartier war auch die Station ihres Stadtbummels, wo sie es als merkwürdig zu empfinden begann, dass ihre Tochter sich nicht meldete. Das erste Mal hatte sie Inga angerufen, als sie den Audi im Kempinski geparkt hatte. Es war gar kein Anruf im eigentlichen Sinne gewesen. Sie waren ja erst für sechzehn Uhr verabredet. Sie hatte das nur noch einmal bestätigen, die Verabredung telefonisch endgültig der Wirklichkeit einverleiben wollen. Das war zwar überflüssig, aber das machte man ja neuerdings so. Man bewegte sich nicht mehr über große Zeiträume hinweg aufeinander zu, ohne sich in regelmäßigen Abständen telefonisch zu versichern, dass beide noch auf dem richtigen Kurs waren. Und man sah ja, wie leicht etwas dazwischenkommen konnte. Warum, verflixt noch mal, meldete Inga sich nicht?
Ein zweites Mal hatte sie nach der Maniküre bei ihrer Tochter angerufen, nachdem sie nach einem enttäuschten Blick auf ihr Handy festgestellt hatte, dass Inga nicht zurückgerufen hatte. Eine dritte Nachricht hatte sie beim Austernessen abgesetzt. Die vierte vor der Cartier-Vitrine schenkte sie sich jetzt. Stattdessen holte sie ihren Wagen vom Kempinski ab und lenkte ihn direkt nach Steglitz, wo sie gegen sechzehn Uhr eintraf. Sie hatte eine Parkkarte für Ingas Tiefgarage. Ingas Wagen stand auf seinem reservierten Platz. Schlief das Mädchen vielleicht noch?, fragte sich Ulla Zieten, während sie verärgert einparkte.
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