Torte mit Staebchen
kannte Sanmao und seine Empfindlichkeiten am besten und hätte Inge seine chinesische Hälfte erklären können. Aber sie war momentan genauso unerreichbar wie ihr Sohn.
Inge saß vor sich hinbrütend im Erker, die Füße zur Erfrischung in einer Emailschüssel mit kaltem Wasser. Seit die Tigerhitze Schanghai erbarmungslos im Griff hatte, war ihr Zufluchtsort auf dem Dach zu einem Bratrost geworden. Wenn ihr Blick über die Dächer schweifte, fragte sie sich manchmal, wie Buddha wohl mit dem Säugling verfahren war, den sie zu seinen Füßen abgelegt hatte. Bei ihren späteren Besuchen hatte sie natürlich nie gewagt, die Nonnen danach zu fragen. Und der bleierne Himmel über der von Hitze und Krieg gelähmten Stadt gab keine Antwort.
»Inge, lass uns eine Runde spielen«, schlug die Mutter vor, die die Verzagtheit ihrer sonst so lebhaften Tochter kaum mehr mitansehen konnte. Sie selbst hatte in Ermangelung zahlungskräftiger Kunden auch immer weniger zu tun, allenfalls durchgewetzte Krägen und zerschlissene Manschetten wurden noch gewendet oder zwei kaputte Hemden in ein ›neues‹ verwandelt. Inge hatte zwar keine Lust, wollte aber die ungewöhnliche Initiative ihrer Mutter nicht zurückweisen. Ohne erkennbare Begeisterung holte sie das Brett und stellte die Männchen auf, deren Farbverteilung und Position sie im Schlaf kannte.
Wieder einmal spielte sie den Erwachsenen zuliebe, diesmal aber nicht aus therapeutischen Gründen, wie auf dem Schiff, sondern um den Schein zu wahren. Sie war längst nicht mehr das Kind, das im Schutzraum des Spiels alle Probleme vergessen konnte, das hatten ihre Eltern offenbar noch nicht begriffen. Sie wäre ja selbst gern dorthin zurückgekehrt, wo alles einfach und unkompliziert war, aber es funktionierte einfach nicht. Ihr vorherrschendes Gefühl war eine unbestimmte Wut gegen alles und niemand im Besonderen.
Verbissen schmiss sie jeden raus, der sich ihr in den Weg stellte, würfelte wie eine Besessene und schaffte es schließlich, ihre Männchen als Erste ins Ziel zu bringen.
»Hast du’s wieder mal geschafft, Entlein«, beglückwünschte sie der Vater.
»Und? Was bringt mir das?«, erwiderte Inge gereizt. Ihre Eltern tauschten einen erstaunten und zugleich verletzten Blick. Dann konnten sie zusehen, wie ihre Tochter buchstäblich explodierte: »Ich hab’s so satt, hier rumzusitzen. Und dieser ständige Fliegeralarm. Hat doch sowieso keinen Zweck. Wo sollen wir auch hin, wenn’s ernst wird? Keine Nacht lassen diese Amerikaner uns in Ruhe. Was sind die nun eigentlich? Unsere Befreier oder unsere Feinde? Ich will bloß, dass das endlich aufhört!«
»Jetzt hör mir mal zu, Inge«, begann der Vater, nachdem er Luft geholt hatte. Sein Ton war ernst geworden. »Es kann jetzt nicht mehr lange dauern. Aber bis dahin müssen wir Geduld haben. Wir sitzenmomentan in einer Sackgasse der Weltgeschichte, aber die hat uns auch vor vielem bewahrt, was noch viel, viel schlimmer gewesen wäre. Das weiß ich besser als du, aber du weißt es auch. Wir sind am Leben, wir haben zu Essen und ein Dach über dem Kopf. Also reiß dich zusammen.«
Inge senkte den Blick. Natürlich wusste sie das. Aber darum ging es ja gar nicht. Den Punkt, wo es wirklich schmerzte, hatte der Vater mit seiner berechtigten Ermahnung überhaupt nicht berührt.
»Ich weiß ja, Papa.« Kleinlaut räumte sie das Spiel in die abgegriffene rote Pappschachtel, auf der sich der Mann mit der roten Krawatte noch immer verzweifelt die Haare raufte.
Der Einzige, der an sie herankam, wenn sie ihre Verzweiflungsstacheln ausgefahren hatte, war Laifu. Auch wenn ein schnurrendes, pelziges Katertier bei fast 40 Grad Celsius nicht unbedingt eine Einschlafhilfe war, so wärmte es einem doch das Herz. Und das hatte Inge in diesem Schanghaier Hochsommer dringend nötig.
***
Am nächsten Tag bummelte Inge auf der Suche nach einem Mittagessen durch die Chusan Road. Frau Finkelstein wollte in der Mittagshitze nicht auch noch den Herd anwerfen, und Inge, die sonst in der Schule aß, versorgte sich während der Ferien nur zu gern bei den Garküchen. Ein Teil des Vergnügens bestand in der Marktforschung, schließlich wollte sie ihre begrenztenfinanziellen Mittel optimal einsetzen. Also erst mal die Stände abgehen, die sich um die Markthalle herum konzentrierten. Langnasen aßen hier kaum, die waren eher in den westlichen Cafés und Restaurants von »Little Vienna« weiter oben in der Straße anzutreffen. Inge quälte sich eben mit
Weitere Kostenlose Bücher