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Torte mit Staebchen

Torte mit Staebchen

Titel: Torte mit Staebchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Hornfeck
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größere Zusammenhänge, weitere Bögen.
    ***
    »Hitler ist tot! Der Krieg ist aus!« Man hörte den Vater schon auf der Treppe rufen. Er hatte noch gar nicht Feierabend, kam aber völlig außer Atem ins Zimmer gestürzt. »Die Wehrmacht hat kapituliert, Hitler hat sich umgebracht«, keuchte er.
    »Mein Gott, Willi, und dieser Mann hat uns sieben Jahre unseres Lebens gestohlen«, stieß Frau Finkelstein hervor, dann fiel sie ihrem Mann um den Hals.
    Inge stand ein wenig hilflos daneben, solche Gefühlsausbrüche war sie von ihren Eltern nicht gewöhnt. Sie selbst blieb von dieser Nachricht seltsam unberührt. Natürlich hasste sie den Mann, der ihr Volk und so viele andere mit ihm ins Unglück gestürzt hatte, und natürlich war sie froh, dass der Krieg in Europa zu Ende war. Aber was bedeutete das für sie? Statt Freude empfand sie nur tiefe Verunsicherung. Der Krieg vor ihrer Haustür, der ihren Schlaf stahl und ihre Bewegungsfreiheit einschränkte, machte hingegen keinerlei Anstalten, zu Ende zu gehen.
    In Hongkou wurde diese Neuigkeit ausschließlich über den Bambustelegrafen verbreitet, weitergetragen von Mund zu Mund. Die Japaner hätten die Niederlage ihres Verbündeten nie an die große Glocke gehängt, noch dazu, wo die Alliierten auch im Pazifik auf dem Vormarsch waren. Die Emigrantenhatten ihre Freude über deren Sieg in Europa daher nicht offen zu zeigen gewagt.
     
    Das war im Mai gewesen. Mittlerweile war Juli, und alles wie gehabt   – nur schlimmer. Seit die Amerikaner im Frühsommer die zu Japan gehörende Insel Okinawa eingenommen hatten, verstärkten sie auch ihre Bombenangriffe auf Schanghai, ganz gleich ob nachts oder am Tag. Das ständige Aufwachen und ewige Unausgeschlafensein, die Ungewissheit und der Mangel an praktisch allen lebenswichtigen Gütern hatte die Nerven der Ghettobewohner zum Zerreißen gespannt. Dabei ging es den Finkelsteins mit ihrem Ernährer ja noch gut, wenigstens hatten sie immer Brot auf dem Tisch, das konnten nicht viele von sich behaupten.
    Inge war sauer, sie war unleidlich und grantig, sie wusste nicht, wohin mit sich in den engen Grenzen ihrer geschrumpften Welt. Noch dazu in dieser unerträglichen Hitze. Wieder plagten sie die roten, nässenden Pusteln des Frieselausschlags, die unerträglich juckten und die jedes Kleidungsstück zur Qual werden ließen. Man konnte ihm nur durch Talkumpuder beikommen, aber der war schwer zu beschaffen.
    Was ihr erst recht die Laune verdarb, war die Tatsache, dass sie Sanmao seit dem Nachmittag im Schutzraum nicht mehr gesehen hatte. Inzwischen war ein Diktator zu Fall gebracht, ein Reich untergegangen und ein Krieg beendet, und ihnen beiden sollte es nicht möglich sein, sich innerhalb dieser Stadt zu sehen? Doch die Japaner am Boden und die Amerikaner in der Luft wussten dies zu verhindern.
    Ständig musste Inge an ihn denken. Und da kein Treffen möglich war, spielte sie ihre früheren Begegnungen wieder und wieder durch wie alte Filme. Dabei unterzog sie jedes Wort, jeden Blick einer genauen Prüfung. Inge kam zu dem Ergebnis, dass die Zuneigung zwischen ihnen keineswegs Einbildung war, sie existierte, und zwar beiderseits, da war sie sich sicher. Vielleicht hat er ja nur noch nicht gemerkt, dass er mich wirklich mag, versuchte sie sich die Funkstille aus der Bubbling Well Road zu erklären.
    Sie selbst zweifelte seit jenem Fliegeralarm nicht mehr daran, dass es sich bei dem Gefühl, das sie seither so vollkommen besetzt hielt, um akutes Verliebtsein handelte. Aber warum trieb einen etwas so Schönes, so prickelnd Aufregendes gleichzeitig fast in den Wahnsinn? Warum musste sie dieses Gefühl unter so denkbar schwierigen Umständen erleben? Andererseits waren es diese »schwierigen Umstände« gewesen, die sie überhaupt nach Schanghai und zu Sanmao gebracht hatten. Im Gegensatz zur Mutter sah sie die Jahre hier keineswegs als verloren an. Ihr hatte niemand was gestohlen, im Gegenteil, ihr war etwas geschenkt worden, Möglichkeiten hatten sich eröffnet. Aber jetzt wollte sie bitte endlich leben, nicht länger hier eingesperrt sein, dieser elenden Pattsituation entkommen.
    Wenn sie doch wenigstens mit jemandem reden könnte. Aber Max, ihr einziger ernsthafter Gesprächspartner, war nun ausgerechnet kein geeigneter Kandidat für dieses Thema. Der schaute ihr selbst manchmaleinen Tick zu lange in die Augen. Und die Mutter taugte erst recht nicht als Vertraute. Wenn schon, dann war Frühlingserwachen jetzt die Richtige. Sie

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