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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Lukas allerdings hatte noch nie jemand zu Gesicht bekommen. Der Mann stand in seiner Backstube, und dort blieb er auch. Nach Aussagen älterer Kunden war er längst tot und die Arbeit von seinem Sohn übernommen worden. Was Frau Lukas, die hin und wieder im Geschäft nach dem Rechten sah, dementierte. Auch, daß sie einen Sohn oder Söhne haben sollte. Diese Unklarheiten waren dem Mythos Lukas natürlich dienlich. Feinschmecker nahmen jeden Morgen große Umwege in Kauf, um an die geradezu wundersamen Erzeugnisse dieser Bäckerei zu gelangen.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, eingeklemmt zwischen zwei Zinshäusern, lag eine mit Hundekot planierte sogenannte Grünfläche, auf der sich ein paar kümmerliche Bäumchen an Holzstäben aufrecht hielten. Die Kunst der Nachkriegszeit war durch eine Brunnenskulptur in Form eines auf seinem Hinterteil schaukelnden Bären vertreten. Das Holz der einzigen Bank war grau, rissig und mit Taubendreck gesprenkelt. Daneben ein Mülleimer aus Gitterblech, wie man ihn sonst kaum noch sah. Das Ganze nannte sich Friedrich-Jeschek-Park, was so klang wie Kümmer-dich-um-deinen-eigenen-Dreck.
    Hätte sich je ein Bürger dafür interessiert, was dieser Jeschek angestellt hatte, um mit einem solchen Park bestraft zu werden, so wäre keiner der zuständigen Beamten in der Lage gewesen, ihm eine Auskunft zu erteilen. Aber da war ohnehin niemand, den das interessierte. Auch Vavra nicht, der die Straße überquerte, eine Zeitung aus dem Abfallkübel zog, sie auf der Bank ausbreitete und sich setzte. Die Zigarette, die er zwischen seinen Lippen unterbrachte, war Raubgut aus Liepolds Wohnung. Er rauchte Kette und sah hinüber zur Bäckerei Lukas. Vavra wartete, auch wenn er nicht sagen konnte, worauf. Aber er wartete nicht umsonst. Gegen halb elf parkte ein Sportwagen vor der Bäckerei, eine von diesen englischen Zigarren, in die kein Mensch, war er nicht Jockey, hineinpaßte.
    Um so erstaunlicher, daß der Mensch, der sich jetzt mit einer rheumatischen Bewegung aus dem Auto herauswand, eine beträchtliche Körperfülle besaß. Ein Kerl in den Dreißigern, schütteres, rötliches Haar, ein geflecktes, schwammiges Gesicht, ein Kinn wie der Kehlsack eines Pelikans. Tatsächlich verdeckte sein Kinn den Knoten der Krawatte. Über seiner Wampe war die Kette einer Taschenuhr gespannt. Der Mann trug Lackschuhe, was angesichts seines konservativen Anzugs wie ein Ausdruck leiser Verwegenheit anmutete. Er schloß den Wagen ab und steckte sich eine Zigarette in den Mund, die in seiner Hand, zwischen seinen Lippen etwas von einer Süßigkeit besaß. Er rauchte im Stehen, mehr ein Paffen. Die Art, wie er die Zigarette austrat, wirkte zärtlich, als zertrete er ein Insekt, überaus konzentriert, wie im Bewußtsein, solcherart ein göttliches oder gar reinkarniertes Geschöpf ausgelöscht zu haben. Er lächelte. Dann ging er in die Bäckerei. Vavra hatte ihn erkannt: Dr. Grisebach, der angebliche Anwalt, der angebliche Pflichtverteidiger, der Mann, der das Wort Taubenhofgasse aus ihm herausgeholt hatte.
    Die Sonne trat nun zwischen den Wolken hervor, und es war Vavra unmöglich, durch die Scheiben zu sehen. Nachdem Grisebach auch nach fünf Minuten nicht wieder aus dem Geschäft gekommen war, änderte Vavra seine ohnehin dürftige Taktik und ging in die Bäckerei. Der Duft von frischem Gebäck und Kaffee umstellte den Eintretenden. Vavra erkannte seine geliebten Croissants. Wen er allerdings nicht sah, das war Grisebach. Eine Frau, die ihre Handtasche an die Brust drückte, unterhielt sich mit den beiden Verkäuferinnen. Alle drei schienen erregt. Eines Theaterstückes wegen, das keine von ihnen gesehen hatte. Lieber wären sie gestorben.
    Jene Verkäuferin, die ihm den Zwanzig-Schilling-Schein ausgehändigt hatte, löste sich seufzend aus der Runde, fragte nach seinem Wunsch. Erkannte sie ihn nicht? Wollte sie ihn nicht erkennen? Er wußte nicht so recht, was er sagen sollte, erzählte etwas von wegen er habe sich hier verabredet. Unsinn, dachte er, wer verabredet sich in einer Bäckerei? Doch die Verkäuferin fand nichts dabei, zeigte auf eine olivgrüne, hölzerne Tür, die Vavra noch nie aufgefallen war und auf der ein ovales Emailblech verkündete, daß es hier zum »Bergsteigerstüberl« gehe. Er blinzelte überrascht, dankte und trat durch die Tür in einen dunklen, sehr schmalen, aber dermaßen hohen Gang, daß man glaubte, sich auf dem Grund einer Gletscherspalte zu befinden. Vielleicht bloß

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