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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Atoll vorgelagerten Marktgemeinde. Cerny hatte eine Art Schloß erwartet, doch bei dem zentralen Bau schien es sich um ein altes Schulgebäude zu handeln. Aus den Flanken wuchsen langgestreckte Glas-Stahl-Konstruktionen, an deren Enden wuchtige Betonplatten aus dem Erdreich ragten, als hielten sie den ganzen Komplex zusammen. Die Einfahrt war weder durch Beamte noch Videogeräte gesichert, dafür stand das Tor offen, während in dieser Gegend schon jeder Kleingarten über einen Selbstschußapparat verfügte. War das ein Ausdruck der Gelassenheit wirklich Reicher? Oder hatte Frau Hafner, nachdem sie ihre Tochter verloren hatte, nichts mehr zu verlieren?
    Immerhin, an der Tür wurden Cerny und Resele von einem Angestellten abgefangen, der nicht nur über anglisierte Manieren verfügte, sondern unter dessen Jacke sich auch der Griff einer Pistole abzeichnete. Möglich, daß er nicht seine Arbeitgeber, sondern bloß sich selbst zu schützen versuchte. Er besah sich Cernys Legitimation mit abweisender Eindringlichkeit, nickte schließlich, als habe er soeben die Barbarei der Natur als schauderhaft, aber unausweichlich hingenommen, und führte die beiden durch eine Vorhalle, die man mit der Kulisse in einem Greta-Garbo-Film verwechseln konnte. Der nächste Raum hätte die Garbo weniger entzückt. Es war nicht der erwartete Rauchsalon, sondern ein von Geräten befreiter ehemaliger Turnsaal, der Holzboden schwarz lackiert, keine Möbel, bloß ein hüfthoher Aschenbecher, in dem zwei Kippen lagen. Der Angestellte zeigte durch eine Geste an, man solle hier warten, und kehrte zurück ins Vestibül.
    An einer Längsseite der Turnhalle befanden sich großformatige Siebdrucke, Standfotos aus Kriegsfilmen, The Deer Hunter , Platoon , Im Westen nichts Neues , keinerlei Eingriffe, kein Warholscher Barock, und dann aber eben doch die Bedeutung mittels Bruch, indem zwischen den drei Tafeln der rechten und den zwei der linken Seite ein üppig gerahmtes Landschaftsgemälde Carl Rottmanns hing, das aber nur zu etwas mehr als der Hälfte verglast war. Darüber hätte man gescheit plaudern können. Resele nahm jedoch das Angebot des Aschenbechers an und rauchte, während Cerny sich zum anderen Ende des Raumes hin bewegte, vorbei an den restlichen Tableaus, Apocalypse Now , Days of Glory , und eine Schiebetür öffnete, die aber nicht in die erwartete Gerätekammer führte, sondern in eine großräumige Bibliothek, die Bücher soldatisch gereiht, die hohen Leitern mehr abwehrend als einladend. Daß hier auch gelesen wurde, war nicht auszuschließen, wenngleich die Flaschen auf dem Beistelltisch und das Herrenclubmobiliar eine Zerstreuung abseits mächtiger Folianten nahelegten. Auf der gegenüberliegenden Seite, in korrekter Weise mit zwei Lautsprechern ein Dreieck bildend, stand ein Polstersessel, in dem jemand mit dem Rücken zum Eintretenden saß. Merkwürdigerweise realisierte Cerny erst in dem Moment, da er die Gestalt betrachtete, die der Musik lauschte, die Musik selbst, das Benedictus aus Mozarts Requiem, welches er, der gescheiterte Gesangsschüler, mit Bitterkeit erkannte. Er ging nach vorn, und als er dann vor der sitzenden Person stand, sah er in das Gesicht einer Greisin, ein Gesicht, das die eigentümliche Wirkung besaß, in die verschiedensten Richtungen auszubrechen. Eine Seite des Mundes hing wie ein Lappen herunter, während die andere im Ansatz eines Grinsens erstarrt schien. Ein Auge wies zur Stirn, das andere, schräg gestellt, beinahe geschlossen, zeigte Richtung Schläfe. Das Kinn war wie eine Kufe nach oben gebogen. Was den Kopf noch zusammenhielt, war nicht klar, sicher nicht das graue Haar, das, möglicherweise echt, dennoch an ein Toupet erinnerte. Vielleicht die Ohren, die, obwohl das eine enganliegend, das andere ein wenig abstehend, doch auf gleicher Höhe lagen und solcherart im Rahmen der Möglichkeiten eine stabilisierende Wirkung besaßen, verstärkt noch durch ein Paar Ohrringe, deren Steinbelag pompös ausfiel. Cerny dachte an Hufeland, dieses Prachtstück eines alternden Menschen, den nicht das Alter, sondern ein paar kleine fliegende Körper, kaum größer als Kirschkerne, umgebracht hatten. Während diese Frau hier in ihrem Sessel auseinanderzufallen drohte. Aber sie saß da, atmete und hörte Mozart. Cerny grüßte.
    »Sie kann Sie nicht hören.«
    Cerny wandte sich um. Zwei Frauen. Beinahe hätte er geglaubt, sie seien Schwestern. Die eine elegant, intellektuell durch Brille und strengen Blick, die

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