Tortengraeber
Grundfläche nicht am Boden aufsaß, sondern knapp über der Erde zu schweben schien. Die von den Figurinen bekannten Zitate menschlicher Anatomie fehlten. Eine im Wanken begriffene Architektur. Durch den schmalen Gang würde man diese Arbeiten kaum transportieren können. Und sie sahen ja auch nicht aus, als sollten sie je dieses Atelier verlassen. Bei aller eigenen Geneigtheit schienen sie dennoch den Raum zu stützen. In welchem es sich atmete, als habe man sein Gesicht in eine Sandfläche gepreßt. Das Rohr eines polternden Kohleofens glühte. Dennoch war es empfindlich kalt.
Rad war kaum auszumachen auf dem Sofa, das in einer Ecke stand. Er war der schwarze Fleck auf einem schwarzen Bild. Aber seine Stimme war deutlich, als er nun mit deplazierter Großmut meinte, man würde also über die Angelegenheit reden müssen, jetzt, wo sowohl Hufeland als auch Wiese tot seien.
»Sie können auch zuvor Ihren Anwalt benachrichtigen«, sagte Cerny, dem Rads selbstgefällige Art mißfiel.
»Wir werden sehen, ob das nötig ist. Sollte es das sein, dann werden Sie mich kurz entschuldigen müssen.« Was er damit auch immer sagen wollte.
Gähnmaul schob zwei Sessel heran, schaltete eine Stehlampe ein, die in diesem Ambiente merkwürdig gegenständlich anmutete, und schenkte Wein in mehrere Gläser, die mit denen, durch die das schüttere Tageslicht sich kämpfte, nicht bloß das Material gemein hatten.
»Also, Herr Rad, Sie kannten nicht nur Hufeland, sondern auch Wiese.«
»Durch Wiese bin ich erst mit Hufeland bekannt geworden. Joachim hat mich in die sogenannte Lukasrunde eingeführt. Dort habe ich dann auch unseren geschätzten Gähnmaul kennengelernt.«
»Was bedeutet Lukasrunde?«
»Ein paar Freunde, die sich im Lukas treffen. Das Lukas ist ein kleines Bäckereigeschäft mit angeschlossener Konditorei. Sie können mir glauben, nirgends in Wien werden Ihnen bessere Mehlspeisen serviert. Und über den Rest der Welt will ich mich gar nicht auslassen. Es ist ein wahres Glück, daß die Chefin des Hauses das nicht an die große Glocke hängt, darauf achtet, daß die Sache ein Geheimnis bleibt. Eigentlich ist das dort mehr ein Club. Es mag wunderlich klingen, aber diese Dame hat Einfluß. Die Besitzerin einer Konditorei – ist das nicht sehr österreichisch?«
»Worin besteht ihr Einfluß?«
»Zunächst einmal bringt sie Menschen zusammen. Sie ist konservativ, aber sie hat ein großes Herz. Zumindest für Leute, die dem Reiz von Mehlspeisen erliegen. Auch Minister, Wirtschaftsbosse und Sponsoren sollten einen exzellenten Millirahmstrudl zu schätzen wissen. Tun sie es nicht, werden sie von Frau Lukas vor die Tür gesetzt. Da kann jemand Bürgermeister von irgendwo sein, das ist ihr gleichgültig. Vor der Lukas sind alle gleich. Sie werden mir nicht glauben. Aber wer aus dieser Konditorei hinausfliegt, der hat auch draußen keine Chance mehr, der ist erledigt. Was natürlich die wenigsten wahrhaben wollen. Vielleicht könnte man diese Dame als ein modernes Orakel bezeichnen, auch wenn sie sich mit Weissagungen zurückhält. Aber indem sie eine bestimmte Person ihres Lokals verweist, prophezeit sie deren Untergang. Und sie hat schon eine Menge Leute nach draußen expediert, Leute, die sich nicht benehmen konnten, sich vielleicht über die Einrichtung amüsiert haben, im betrunkenen Zustand ausfällig wurden oder – und das ist der schlimmste und eigentlich unbegreiflichste Fall – ein Stück Torte haben stehenlassen. Wer hier nicht fertigißt, der muß nicht zahlen. Er muß nur gehen. Und geht damit direkt in seinen Untergang. Es gibt unzählige prominente Beispiele. Gesellschaftliche Größen von einst, die jede Macht verloren haben, die man in Rente geschickt hat, ins Gefängnis, oder die sich selbst auf irgendeine Art der Schmach entzogen haben. Natürlich, die meisten von denen hatten nicht die geringste Ahnung, wie sehr ihr trauriges Schicksal mit der Konditorei Lukas zusammenhängt. Wer in unserer aufgeklärten Zeit kann sich etwas Derartiges auch vorstellen? Einmal hat die Madame Lukas sogar einen Nobelpreisträger aufs Klo geschickt, damit er sich die Hände wäscht. Man stelle sich vor: Der Mann hat pariert. Dafür hat er auch seine Malakofftorte bekommen. Nicht daß er später auch noch einen zweiten Nobelpreis eingeheimst hätte, aber es ist ihm auch nichts Schreckliches zugestoßen. Verstehen Sie, Cerny, in gewisser Weise ist doch jeder Mensch gläubig, und man muß auch gar nicht begreifen, warum das so
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