Toskanische Verführung (German Edition)
das Dunkel zu durchdringen. Das war nicht Dawkins. Es musste der geheimnisvolle, liebenswürdige Hugo sein, Alessandros Halbbruder, der sich aus dem Schutz seines Zimmerchens auf die Terrasse gewagt hatte. Der Graf klagte ihm ernsthaft gerade sein Leid, dass sein Drogennachschub in Kürze abgeschnitten sein würde? Was für ein Egoist, was für ein kranker, widerlicher Mensch! Hugo war nun wirklich der Unglückliche, Versehrte und Bemitleidenswerte von beiden - und Alessandro, reich, gut aussehend, gelangweilt, hatte die Unverfrorenheit, sich bei ihm auszuheulen?
Ein Feuerzeug klickte und beleuchtete wie ein kleiner, gelblicher Blitz ein Gesicht. Flannery verschlug es den Atem. So hatte sie Alessandro noch nie gesehen und sie wünschte sich, sie könnte den Anblick gleich wieder vergessen. Der Ausdruck seiner Augen war kalt und spöttisch, aber gleichzeitig erschienen sie ihr so tot und seelenlos wie bemalte Puppenaugen. Aber noch schlimmer war seine Mimik, das sardonische Grinsen, eine verzerrte Grimasse, aus der nichts sprach als Zynismus, Gefühllosigkeit, kalte Verachtung, eine die Welt verspottende, alles Gute verlachende, teuflisch bösartige Geisteshaltung, die ihr so abstoßend und gemein erschien, dass ihr der reine Widerwille dagegen wie ein kalter, jäher Schmerz durch den Kopf schoss.
Das Feuerzeug erlosch und hinterließ ein Nachbild auf ihrer Netzhaut. In der Dunkelheit unter dem Balkon glühte nur noch der schwache Leuchtpunkt einer brennenden Zigarette.
Flannery beugte sich vor und würgte. Das war das wahre Gesicht des Alessandro della Gherardesca. Das war der Mann, der sie behandelte wie ein Möbelstück, das man benutzte und wieder wegstellte. Der sie ungefragt küsste und umarmte, der sie im gleichen Moment so kalt und fremd ansah, als wären sie sich noch nie begegnet - dessen Berührungen so zärtlich sein konnten, der so grob und so unhöflich war und dann wieder so freundlich sein konnte ... ihr kamen die Worte seines Halbbruders in den Sinn: Gehen Sie Alessandro aus dem Weg. Er ist verrückt.
Jetzt erst begann sie zu verstehen, was Hugo damit gemeint hatte. Alessandro war geisteskrank. Er war ein drogensüchtiger, kranker Psychopath, nicht besser als sein trunksüchtiger Vater, der Alessandros Mutter umgebracht hatte.
Ohne sich weiter darum zu kümmern, ob er sie erblickte oder nicht, riss sie sich aus ihrer Erstarrung los und flüchtete ins Haus. Die Erinnerung an den kurzen Moment der Wahrheit, die so ernüchternd und erschreckend gewesen war wie ein eiskalter Wasserguss, verfolgte sie auf ihrem Weg durch das dunkle Haus und verließ sie erst, als der Schlaf ihrem aufgewühlten Gemüt endlich für ein paar kurze Stunden die ersehnte Ruhe brachte.
20
Das helle Licht der Morgensonne und eine erfrischende Dusche vertrieben die Schatten so gründlich, dass Flannery mit einem Lachen auf die Hirngespinste der Nacht und ihrer Beobachtungen im Garten zurückblicken konnte. Was hatte sie sich da nur zusammenphantasiert? Sie hatte ein Gespräch belauscht, das nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war, und sich alles Mögliche aus den Fetzen zusammengereimt. Und dann war sie wie ein kleines Kind durch das flackernde Licht eines Feuerzeugs erschreckt worden, das aus einem ganz normalen Gesicht eine Fratze aus dem Albtraum gezaubert hatte. Sie war doch schon halb im Schlaf gewesen, von den Ereignissen des Abends ordentlich durcheinandergeschüttelt und aus dem Gleichgewicht geraten. Das hatte gereicht, um sie Gespenster sehen zu lassen. Aber diese düsteren Bilder zerfaserten jetzt im strahlenden Licht der Sonne zu Nebel und substanzlosen Schattengebilden ohne Kraft und Schärfe.
Sie lächelte, als sie hinunter in die Küche ging, und ihr Lächeln verblasste nicht, als sie dort Alessandro am Tisch sitzen sah, eine Tasse Kaffee in der Hand. Sie verharrte, sah ihn an. Die beängstigenden Bilder der Nacht hatten zwar ihren Schrecken verloren, aber sie konnte sie immer noch heraufrufen. Sie verglich die Erinnerung mit dem, was sie jetzt vor Augen hatte. Alessandro saß in entspannter Haltung an dem großen Küchentisch, das Sonnenlicht lockte warme Reflexe aus dem Kupfergeschirr und den polierten Holzflächen und es roch nach frischem Brot und Kaffee. Es war ein friedliches Bild voller Harmonie, und Alessandro, dessen Miene so düster und hart sein konnte, erschien ihr müde und verletzlich, seine Düsterkeit eher Trauer als Überdruss, eher Melancholie als Zynismus.
Er blickte auf, und sein
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