Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
davonfahren sollte. Doch es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, dabei nicht entdeckt zu werden.
Selbst in einem verschlafenen Nest wie Hopewell würde ein quicklebendiges Mordopfer auffallen.
Mit einer Hand fuhr er sich über den rasierten Schädel, um sich den Schweiß abzuwischen. Dies war seine einzige Chance, das alles geradezubiegen, und bislang hatte er in dieser Hinsicht weiß Gott nicht besonders gute Arbeit geleistet.
Niemand zu Hause. Er steckte das Fernglas wieder ein und holte das Gerät hervor, mit dem er Funksender aufspüren konnte. Er wusste bereits, dass Alan jedes Zimmer bis auf die Bäder und den Dachboden verwanzt hatte. Hoffentlich hatte er nicht auch noch die Anzahl der Bewegungsmelder aufgestockt.
Wenn er daran dachte, wie der Kerl seine Frau ausspionierte, schnürte es ihm vor Wut die Luft ab. Er atmete scharf ein. Sich auch noch vorzustellen, wie Alan ihr Haus – ihrer beider Zuhause – betrat und Sarah zu verführen versuchte, ließ den dicken Knoten in seiner Kehle anschwellen, bis er daran zu ersticken drohte.
Sam war zunächst davon ausgegangen, Alan beobachte Sarah im Auftrag des Russen, um herauszufinden, ob Sam noch lebte oder ob seine Frau von dem Geld wusste. Es war der einzige Moment, in dem er nicht bereut hatte, Sarah angelogen, ihr die ganze Sache verheimlicht zu haben. Doch als die Wochen zu Monaten wurden, erkannte Sam, dass Alan seine eigenen, ehrgeizigen Ziele verfolgte: Er wollte über Sarah an das Geld herankommen und es für sich behalten.
Ein guter Plan, das musste er zugeben, wenn auch zeitaufwendig. Zunächst musste er warten, bis Sam für tot erklärt wurde, dann Sarah heiraten, sie mit zur Bank auf den Kaimaninseln nehmen, wo sie als Witwe auf Sams Konten zugreifen konnte – von deren Existenz sie überhaupt nichts wusste – und dann … Nein. Dazu würde es nie kommen. Sam würde Sarah heute hier herausholen.
Wenn er sich überhaupt auf etwas in der Welt verlassen konnte, dann auf Sarah. Sie fasste rasch Vertrauen, verschenkte ihr Herz jedoch nicht so schnell. Alan hatte ihr bestimmt kein Jawort abgerungen. Ausgeschlossen.
Er schulterte sein Gepäck und schlich durch das Laubwerk, bis er hinter seinem Haus angekommen war. Es tat jedes Mal entsetzlich weh, nach Hause zu kommen und trotzdem nicht mit Sarah sprechen zu können, sie erneut zurückzulassen. Aber es war einfach zu gefährlich. Er musste an Josh denken.
Doch angesichts Korsakovs Freilassung blieb ihm keine Wahl mehr, er musste etwas riskieren.
Zwischen dem Wald und dem anvisierten Badezimmerfenster erstreckte sich eine offene Rasenfläche.
Er stand reglos da und horchte. Keine ankommenden Autos zu hören. Also rannte er durch das Gras, bis zu den Fliederbüschen unter ihrem Schlafzimmerfenster. Verblühte Dolden hingen an den Zweigen. Er rieb eine Blüte zwischen den Fingern und sog den Duft ein. Sarah schlief immer bei offenem Fenster, sie liebte den Fliedergeruch im Frühling und den Duft der Pfingstrosen im Sommer.
Geduckt lief Sam am Unterbau des Hauses entlang, bis er das Badezimmerfenster erreicht hatte. Er schaltete das kleine Suchgerät ein, das er in der Hand hielt. Das Display leuchtete grün auf. Keine Wanzen.
Er drückte das Fliegennetz ein und schob das Fenster hoch. Zuerst warf er den Rucksack hinein; dann schwang er sich selbst über das Fensterbord. Mit einem Fuß schob er den Toilettendeckel nach unten und zuckte gleich darauf zusammen, als er klappernd zuschlug. Doch nichts geschah. Niemand kam. Im Haus war es still. Also schob er sich ganz durch die schmale Öffnung.
Dank Alans Überwachungskameras konnte Sam nicht weiter als ins Badezimmer. Immerhin war Sarah selbst in dem beengten, vollgestopften Raum gegenwärtig. In den kobaltblauen Fliesen, die sie gemeinsam ausgesucht und selbst verlegt hatten, durch den Duft ihres Shampoos – nach Honig und Mandel – und durch ihren Bademantel, der an der Tür hing und ihn wie ein alter Freund zu begrüßen schien.
Er konnte nicht widerstehen, vergrub das Gesicht tief in dem weichen Stoff und gab vor, es wäre Sarah, die ihn liebkoste. Bald, bald, versprach er sich.
Die alte Uhr im Eingangsflur schlug dreimal laut. Drei Uhr morgens. Wenn Josh heute mit dem Bus von der betreuten Tagesstätte zurückkam, war Sam zum ersten Mal seit langer Zeit nicht da, um ihn abzuholen.
Frustriert stieß er den Atem aus. Aber das war es wert, sobald er Josh und Sarah wieder vereint hatte. Sam beugte sich über das kleine Waschbecken und goss
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