Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
jegliche Aufmerksamkeit scheute und immer ohne großes Tamtam seine Arbeit erledigte. Sarah betrachtete ihn besorgt. In ihrem Schmerz war sie anscheinend blind dafür gewesen, wie er sich verändert hatte. Was war ihr noch alles entgangen?
»Bin nie auf irgendwelche Almosen angewiesen gewesen. Nicht jetzt und damals auch nicht. Was ich brauche« – er atmete tief durch und senkte die Stimme – »sind Menschen, die mir zuhören und mich das tun lassen, was notwendig ist, damit diese Stadt wieder ein sicherer Ort wird.«
»Wieder?« Er meinte wohl Damian Wright. »Hal, du darfst dir nicht die Schuld daran ge–«
»Sei still, Sarah! Du hast doch keine Ahnung, worüber du sprichst, verdammt!«
Verblüfft blinzelte sie ihn an. »Keine Ahnung? Wie kannst du so etwas sagen?«
»Du warst nicht hier. Du warst nicht diejenige, die dafür verantwortlich war, die das alles hätte verhindern müssen.«
»Hal –« Sie rang nach Worten, denn sie konnte seine Schuldgefühle und den Schmerz nachfühlen. Ihr ging es doch genauso. Wenn sie nur hier gewesen wäre, als Damian Wright … »Dich trifft keine Schuld. Aber du hast recht. Möglicherweise weiß die Stadt nicht zu schätzen, was sie an dir hat. Vielleicht solltest du aufhören.« Nur äußerst unwillig kam ihr dieser Vorschlag über die Lippen. Ohne Hal, auf den sie sich stets verlassen konnte, was sollte da aus ihr werden? Was würde aus der Stadt werden?
Aber es war längst überfällig, dass er einmal an sich dachte.
»Aufhören?« Er lachte verächtlich. »Das wäre wohl das Beste. Aber das kann ich nicht, solange ich mir um dich Sorgen machen muss.«
Sie wich in den Sitz zurück und klammerte sich an der Armlehne fest, während sie auf die befestigte Straße einbogen, die in den Ort führte. Er bremste abrupt und hielt direkt vor dem Rockslide .
»Hal.« Sie zögerte, überlegte, was sie sagen könnte, um ihm zu helfen. »Erinnere dich daran, was du versprochen hast! Du wolltest einige Zeit freinehmen.« Sie öffnete die Tür und schlüpfte aus dem Wagen.
Er beugte sich über die Mittelkonsole, um ihr in die Augen zu schauen. »Halte du dein Versprechen, dann werde ich meines halten. Du und Alan, ihr fahrt übers Wochenende weg. Und kommt nicht vor Montag zurück. Abgemacht?«
Hal hatte nie irgendetwas von ihr gefordert. Das war also das Mindeste, was sie für ihn tun konnte. »Abgemacht.«
In dem Lächeln, das er ihr nun schenkte, lag Hoffnung und zugleich Traurigkeit; dann fuhr er davon.
* * *
Das Geräusch von Schritten riss Caitlyn aus dem Schlaf. Stiefel auf Linoleumfußboden. Sie rieb sich die Augen, atmete einmal tief durch und versuchte sich zu orientieren. Doch genau wie in den Jahren bis zu ihrem neunten Geburtstag siegte ihr Herz über den Verstand, und sie wurde von wilder Freude übermannt.
Denn dieses Geräusch konnte nur eines bedeuten: Ihr Vater war zu Hause. Jeden Tag horchte Caitlyn auf seine Schritte, wie er über den Weg vor dem Haus durch die Küche und ins Wohnzimmer kam, in dem sie auf ihn wartete. Dann ließ sie jedes Mal alles stehen und liegen, rannte auf ihn zu, sprang hoch, und er fing sie jedes Mal auf.
Diese kurzen Momente in seinem Arm waren der Höhepunkt eines jeden Tages. Sie hatte sich nie wieder derartig sicher, geborgen und geliebt gefühlt.
Idiotin , schalt sie sich selbst und ihre trügerische Erinnerung. Der Chief trägt heute einfach Cowboystiefel, genau wie so viele von den Hinterwäldlern hier in der Gegend .
Sie richtete sich in dem Bürostuhl auf, der vor dem einzigen Schreibtisch in der spartanisch eingerichteten Dienststelle stand. Kurz vor Albany hatte sie von einer Tankstelle aus in Hopewell angerufen und erfahren, dass ihr der Polizeichef erst in einigen Stunden eine Audienz gewähren würde. Also war sie in aller Ruhe die Straße entlanggefahren, die sich über den Berg wand, jedoch immer noch vor Chief Waverly angekommen.
Sie hatte angerufen, damit er sich auf den Besuch vom FBI vorbereiten, die Amtsstube auf Vordermann bringen und vielleicht sogar schon die Durandt-Akte raussuchen konnte, damit sie hier nicht ihre Zeit verschwendete. Stattdessen war sie von einer hysterischen alten Schreckschraube von Postmeisterin empfangen worden, die sie nicht ins Polizeibüro vorlassen wollte.
Als ob Caitlyn sich dadurch aufhalten lassen würde. Immerhin hatte sie nicht zur Waffe gegriffen, obwohl das Gejammer der Lady sie stark in Versuchung geführt hatte. Sobald Caitlyn die Postmeisterin, Victoria war ihr
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