Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Caitlyn auf.
Die FBI -Agentin hatte sich verändert, seit Sarah sie zuletzt gesehen hatte. Damals hatte sie ausgezehrt und mit den schlecht sitzenden Kleidern und dem gequälten Gesichtsausdruck irgendwie fehl am Platz gewirkt. Heute hingegen strahlte sie Selbstbewusstsein und Stärke aus. Ihr Haar war länger, sie trug einen schulterlangen Bob und schlichte, aber elegante Kleidung, die ihre Figur betonte, ohne dabei aufdringlich zu wirken.
»Ich war dort«, sagte Sarah und schlüpfte auf eine Kirchenbank direkt unter Joshs Lieblingskirchenfenster, auf dem der heilige Georg mit dem Drachen abgebildet war. »Als sie Damian Wright getötet haben. Er wollte mir nicht sagen, wo er sie vergraben hat.« Sie senkte den Blick auf die im Schoß gefalteten Hände; die Nägel waren bei der Kletterei am Berg vorhin eingerissen. Caitlyn hatte Musikerhände, schlanke, spitz zulaufende Finger mit kurzen, gepflegten Nägeln. Der zarte Teint passte zu ihrem rotbraunem Haar und den blauen Augen.
Zu Sarahs Überraschung streckte Caitlyn eine Hand aus und legte sie auf die ihre. »Das wusste ich nicht. Sehr mutig von Ihnen. Geht’s Ihnen gut damit?«
Das hatte Sarah noch nie jemand gefragt. Seit langer Zeit nicht mehr, nicht ernst gemeint, niemand hatte die Antwort tatsächlich hören wollen. Sie schaute auf. Caitlyns Gesichtsausdruck war offen, besorgt. »Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Ansonsten hätte ich nicht gefragt.«
Sie wirkte aufrichtig. Sarah seufzte, doch der zarte Laut wurde rasch von dem großen, leeren Raum geschluckt. »Ich dachte, wenn ich weiß, dass er tot ist, dass er niemandem mehr etwas tun kann, würde ich mich besser fühlen. Ich dachte, dann könnte ich endlich wieder beginnen zu leben. Stattdessen fühlt es sich an, als ob das Leben an mir vorbeizöge.«
Caitlyn nickte. »Als würden Sie in einer Falle stecken. Und erst wenn Sie einen Weg nach draußen finden, können Sie irgendwie damit abschließen.«
»Genau.« Das Licht, das durch das Buntglasfenster fiel, warf helle Farbtupfer auf Caitlyns blasse Haut und ihre blaue Jacke. Die cremefarbene Seidenbluse darunter war mit malvenfarbenen Blumen bedruckt. Ein herber Kontrast zu Sarahs schlammbesudeltem billigem ärmellosem Oberteil. »Aber niemand kann mir helfen, da rauszukommen. Ich muss es alleine schaffen. Deswegen bin ich auch hoch auf den Berg. Ich hatte mir geschworen, nicht eher aufzugeben, bis ich Sam und Josh finden würde.«
»Chief Waverly sagte, Sie hätten eine Leiche entdeckt.«
Sarah zitterte. Sie hatte sich bestimmt ein Dutzend Mal die Hände gewaschen, anschließend mit Alkohol desinfiziert, aber es fühlte sich immer noch an, als würde der fettige Todesschleim auf ihnen liegen. »Es war nicht Sam.«
»Damit hatten Sie eigentlich gerechnet?«
Diese Frage überraschte Sarah. »Ja, natürlich. Niemand außer ihm wurde auf dem Snakehead vermisst gemeldet. Es musste Sam sein – ich war mir so sicher … « Sie verstummte. »Ich weiß immer noch nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein soll.« Sie hob den Blick. »Sind Sie deswegen hier? Wegen des Toten? Aber wie konnten Sie davon wissen?«
»Hat Ihr Mann je von einem Mann namens Stan Diamontes gesprochen? Oder Grigor Korsakov?«
Sarah zog die Stirn kraus. »Nein. Von denen habe ich noch nie gehört. Wieso? Was hat das alles zu bedeuten?«
»Was ist mit Leo Richland? Kommt Ihnen dieser Name bekannt vor?«
»Nein. Bitte sagen Sie mir, was diese Menschen mit Sam zu tun haben! Warum sind Sie wirklich hier?«
Als Caitlyns Griff um Sarahs Hand sich verstärkte, zog sie beide Hände weg. Caitlyn verzog das Gesicht, rieb sich die Daumenwurzel und kniff sorgenvoll den Mund zusammen.
»Es könnte sein, dass Sam dort oben nicht alleine war«, antwortete sie schließlich zögerlich.
»Natürlich war er das nicht, Damian Wright war auch dort. Und Josh.« Sarah starrte die Agentin an, versuchte ihre Worte zu verstehen. »Meinen Sie noch jemand anders, hatte Damian einen Komplizen? Einer der Männer, die sie eben erwähnt haben?« Caitlyn antwortete nicht. Die Stille um sie herum wuchs sich immer weiter aus. »Leo Richland. L. R. Das waren die Initialen auf der Uhr des Mannes, den ich heute gefunden habe. L und R.«
Caitlyn richtete sich auf, kurz davor, von der polierten Eichenbank aufzuspringen. »Tatsächlich? Sind Sie sicher? Hatte er Ausweispapiere bei sich?«
»Das weiß ich nicht. Wir haben ihn eingepackt, und Gerald, der Leichenbeschauer, hat ihn zum Beerdigungsinstitut
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