Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
Vorsichtsmaßnahmen. » Ich lasse es Ihnen hier, aber der Inhalt ist wichtig für uns. Sie müssen ihn mir danach zurückgeben.«
Als sie in ihren Clio stieg, klingelte das Handy. Es war Brigadier Escoubet. » Commissaire, ich habe einen Kollegen von Mesneux ausfindig gemacht. Ich halte ihn hier noch ein bisschen fest, aber es wäre besser, Sie würden ihn sehen, bevor er völlig hinüber ist: Wir sitzen in einem Bistro, im Melting-Potes, Rue des Trois-Bornes, im 11. Arrondissement.«
Aus den heiligen Hallen ins Melting-Potes– das gehörte zu den Freuden ihres Polizeiberufes. Viviane setzte ihr Blaulicht aufs Dach und fuhr die Quais entlang.
Die Fassade des Bistros bekannte bereits Farbe: Sie war lila bis weinrot. In einer Ecke saß ein Obdachloser mit krebsrotem Gesicht, versunken in einem Mantel, der einmal braun gewesen sein musste. Er süffelte langsam ein bauchiges Glas Rosé und schaute Escoubet zärtlich und tief in die Augen.
Der Brigadier empfing die Kommissarin lachend. » Ich habe ihn gebeten, sich zu gedulden, nun hat er doch schon angefangen zu erzählen. Aber der Typ hat sowieso auf Wiederholung gestellt, erzählt alles dreimal.«
» Der Typ! Ich bin kein Typ, ich bin Pitän«, lallte der Obdachlose. » Pitän, weil früher war ich Ka-pitän in der Fremdenlegion.«
Er hatte den schönsten Zustand des Rausches erreicht– wenn man zwar noch die Kontrolle über seine Zunge hatte, aber nicht mehr über das, was man sagte. So würde die Unterhaltung leichter sein.
» Also, Pitän, Sie kennen Pascal Mesneux?«, versuchte Viviane ihm auf die Sprünge zu helfen.
» Nee, kenn ich nich. Keiner kennt einen Mesneux. Wir haben ihn alle Victor Hugo genannt. Und ich, ich bin Pitän, weil ich früher…«
» Ja, Commissaire«, unterbrach Escoubet. » Glücklicherweise hatte ich das Foto aus dem Buch dabei, so konnte ich…«
» Victor Hugo und ich, wir haben uns im Obdachlosenheim kennengelernt«, sagte der Obdachlose wieder, » bei der Heilsarmee, Rue Bouret, sehen Sie. Wir haben uns dort jeden Dienstag zum Duschen getroffen.«
Viviane nickte, als wüsste sie Bescheid. Man musste diesen Typen ermuntern, der Satz war lang gewesen, er schien erschöpft. » Möchten Sie etwas trinken?«
» Ich würde noch einen Rosé nehmen. Nicht, dass ich den mag, aber Roten darf ich nicht mehr, hab eine Entziehungskur gemacht.«
Viviane rief den Kellner. » Einen Rosé und einen Blanc gommé.«
» Ah, Sie waren eine Freundin von Victor Hugo, Sie wollen Seiner damit gedenken.«
» Wieso sagen Sie gedenken? Wissen Sie, dass er tot ist?«
» Man sieht, dass Sie noch nie Platte gemacht haben, Madame. Immer wenn einer von uns hopsgeht, weiß man’s überall, was anderes haben wir uns ja nicht zu erzählen. Die Nachricht geht um, auf den U-Bahnsteigen, in den Obdachlosenheimen.«
» Hat Sie das traurig gemacht, waren Sie gut miteinander befreundet?«
Der Blanc gommé war eine abstoßende Erfindung. Viviane schob das Glas mit einer Grimasse von sich, nachdem sie davon probiert hatte.
Pitän verstand das als Aufforderung und leerte es in drei Zügen, während er erklärte: » Zwischen uns gibt es keine wirkliche Freundschaft. Man tut sich zusammen, nur um sich weniger blöd zu fühlen, wenn man säuft oder mit sich redet. Oder um sich nicht ausrauben zu lassen, wenn man schläft. Victor Hugo, der hat sein eigenes Ding gemacht. War aber ein netter Kerl, wir mochten ihn. Er hatte immer Zeit für einen Plausch, wenn wir ihn trafen, und er hat uns immer einen Schluck angeboten. Armer Kerl.«
Es herrschte ein kurzes Schweigen, Pitän schien ganz versunken in die Tiefen seiner Predigt. Plötzlich tauchte er wieder auf. » Armer Kerl, armer Kerl, aber, hey, trotzdem sehr reich, der Victor Hugo.«
» Sehr reich? Sind Sie sicher?«
» Ja, sehr reich. Der Beweis: Er hatte fast nie etwas bei sich. War irgendwie merkwürdig, dieser Typ. Zum Beispiel sah man ihn nie mit einem Schlafsack oder einer Decke, brauchte er nicht, hatte seine Wohnung Avenue Victor Hugo. Können Sie sich das vorstellen? Eine eigene Wohnung, in einer Straße, die deinen Namen trägt, da muss man ganz schön Schotter haben.«
Pitän enttäuschte Viviane. Sie hatte sich einen bockigen, widerspenstigen Typen vorgestellt, dem sie mit psychologischen Tricks auf die Sprünge helfen musste, stattdessen hatte sie einen Schnapsbruder vor sich sitzen, der so geschwätzig und krankhaft verlogen war wie ein Schauspieler, wenn er im Fernsehen seinen Film vorstellt. »
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