Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
umzubringen, wenn er sie mit der Biografie von Robert Estienne belästigen würde. Er kam etwas zu spät, gerade als sie klingelte, und rettete damit sein Leben, der Kleine.
Die Tür öffnete sich mit dem schweren und würdigen Geräusch von Panzertüren. Louis Saint-Croÿ war noch nicht alt, tat aber ganz so als ob. Er trug seine fünfzig Jahre leidend mit sich herum, sprach mit müder Stimme, war in ein großes Tweedjackett und einen Schal aus Alpakawolle eingehüllt. Er war glatzköpfig, unanständig glatzköpfig, seine Gesichtszüge waren zerknittert, aber sein Blick lebendig, charmant. Er lächelte, während man sich einander vorstellte, lächelte, während er seine Gäste in eine große Bibliothek führte, die nach warmem Staub roch. Er schien Viviane nur angerufen zu haben, um ihr die Schönheit seines Lächelns zu demonstrieren. » Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe kommen lassen, aber ich bin krank.«
» Nichts Ernstes hoffentlich?«, fragte sie höflich.
» Ich bin erkältet. Wirklich sehr erkältet.«
Es gab Leute, die sich das Recht herausnahmen, die Polizei zu bemühen, wie sie vermutlich den Arzt oder die Verkäufer bemühten, nur weil sie erkältet waren. Louis Saint-Croÿs Mutter musste ihm das beigebracht haben, als er noch ganz klein war.
Die Wände des Wohnzimmers standen voller Regale mit Büchern und Ordnern. Ganz hinten in der Mitte eine Büchervitrine aus Palisander, mit kleinen Fenstern. Saint-Croÿ forderte sie auf, um einen niedrigen Tisch herum Platz zu nehmen.
» Möchten Sie etwas trinken? Grapefruitsaft? Hat viel Vitamin C, es gibt nichts Besseres, wenn man erkältet ist«, erklärte Saint-Croÿ bestimmt.
Ohne eine Antwort abzuwarten, schwang er eine kleine Glocke, woraufhin ein Dienstmädchen eintrat, das gekleidet war wie im Theater. Sie war dunkelhäutig und trug lange, kaum gelockte Haare, die von einer kleinen Haube zusammengehalten wurden. Eine schöne Frau mit einnehmendem Blick.
» Joa, mach uns dreien einen frischen Grapefruitsaft.« Dann fuhr er fort, schnurrend vor Bequemlichkeit, mit einer majestätischen Geste in den Raum zeigend: » Wie Sie sehen, mag ich seltene Ausgaben, vor allem handschriftliche Manuskripte. Ich bin wahrscheinlich einer der größten Sammler der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Und was Baudelaire betrifft, nicht nur wahrscheinlich. Da bin ich der größte.«
» Ja… und?«, insistierte Viviane, mehr beunruhigt denn höflich; es würde wohl nie ein Ende nehmen.
» Das Manuskript des Sonetts, das im Fernsehen gelesen wurde, ist ein Vermögen wert, wenn es von Baudelaire ist.« Saint-Croÿ richtete sein unwiderstehlichstes Lächeln an Viviane, dann an Monot, bevor er mit entzückter Stimme sagte: » Und aller Wahrscheinlichkeit nach ist es von Baudelaire.«
Kapitel 6
Saint-Croÿ ließ ein andächtiges Schweigen nachhallen, hüllte sich darin ein– für wen hielt er sich? Viviane machte ihm einen Strich durch die Rechnung: » Was ist ein Vermögen wert, das Manuskript oder das Sonett?«
Der Bibliophile deutete ein verständnisvolles Lächeln an. » Wenn das Sonett von Baudelaire ist, hat es natürlich einen enormen literarischen Wert. Aber die Autografensammler bezahlen nicht für Momente genialer Eingebung, sondern nur für die Spur, die sie auf Papier hinterlassen haben. Das Manuskript ist der Schatz. Ich bin bereit, es seinem Eigentümer abzukaufen, egal zu welchem Preis. Meine Sammlung ist nämlich…«
» Es gibt keinen Preis, Monsieur. Zurzeit besitzen wir nur eine Fotokopie und kennen den Eigentümer des Originals nicht. Was den Autor angeht, handelt es sich bisher nur um eine Vermutung.«
» Ich habe keinen Zweifel daran, dass Sie bald herausfinden werden, wer der Eigentümer ist. Was den Autor angeht, kann ich Ihnen vielleicht dabei helfen, die Vermutung zu bestätigen. Könnten Sie mir eine Fotokopie der Fotokopie anvertrauen? Ich würde sie gerne studieren.«
Monot interessierte diese Unterhaltung anscheinend nicht. Er ging durch den Raum und bewunderte die alten Bücher in den Regalen.
» Fassen Sie nichts an«, schärfte Saint-Croÿ ihm ein. Der charmante Sammler war plötzlich barsch und herrisch geworden. » Meine schönsten Autografen liegen im Safe. Was Sie hier sehen, sind seltene, sehr gefragte Ausgaben, die zu zahlreich sind, um sie im Safe unterzubringen. Was Sie gerade im Begriff waren anzufassen, ist eine Erstausgabe von Die Blumen des Bösen von 1857, der Ausgabe, die wegen Verletzung der
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