Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
Ich habe ihr aufgemacht, sie hat die Milch in die Küche geräumt. Ich habe mich an meinen Schreibtisch gesetzt und wollte gerade eine Chronik für die Gazette baudelairienne redigieren, die ich selbst mitgestalte, als Joa hereinkam, um zu fragen, ob sie noch gebraucht werde. In dem Moment wurde geschossen. Ich habe die Kugel über meinen Kopf fliegen hören. Ich bin unter den Schreibtisch gekrochen und habe um Hilfe gerufen. Joa hat ganz absurd reagiert, sie hat sich meinen großen Brieföffner gegriffen und ist ins Treppenhaus gelaufen, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein. Ich bin ihr hinterhergerannt, habe gerufen, sie solle zurückkommen. Also ist sie wieder heraufgekommen, und ich habe Lieutenant Monot angerufen, der mir seine Handynummer dagelassen hatte. Es war einundzwanzig Uhr zehn.«
Das alles hatte er ohne Unterbrechung erzählt, sehr ruhig, stolz darauf, überlebt zu haben.
» Ich hatte keine Angst, ich hatte ja den Brieföffner«, ergänzte Joa.
» Joa kommt aus Kamerun«, ergänzte nun seinerseits Saint-Croÿ, ganz als würden sich in Kamerun alle Frauen furchtlos mit einem Brieföffner in der Hand in die Gefahr stürzen, wenn man ihren Arbeitgeber bedrohte.
Es war bald zweiundzwanzig Uhr. Der Schütze hatte reichlich Zeit gehabt, das Weite zu suchen.
» Was halten Sie davon, Monot?«, fragte Viviane.
Sie hatte bei dieser Frage keinerlei Hintergedanken, sie wollte wirklich jemanden hören, der für sie mitdachte.
» Um reinzukommen, musste der Schütze den Türcode kennen«, erklärte Monot. » Sicher kannte er sich aus.«
» Nein, ein Code ist leicht herauszufinden, man muss nur beobachten, wie ein Mieter ihn eingibt.«
Monot beharrte dickköpfig auf seiner Meinung, das war anstrengend: » Nicht nur muss er sich hier ausgekannt haben, noch viel wahrscheinlicher handelt es sich um einen Mieter. Wie hätte er sonst den Strom abschalten können? Sicher hat der Schütze ihn abgeschaltet, um nicht mit der Waffe in der Hand im Treppenhaus erwischt zu werden.«
Saint-Croÿ war ein vernünftiger Mensch, er kam Viviane zu Hilfe. » Nichts ist leichter als den Strom im Treppenhaus auszuschalten. Der Stromkasten hängt gut sichtbar im Eingangsbereich, vor der Loge des Concierge, der hat sonntags keinen Dienst. Er kommt immer erst abends zurück.«
» Gut, sprechen wir nicht mehr davon. Was tun?«, fragte Monot mit beleidigter Miene.
Viviane zögerte. Es musste jemand an Ort und Stelle bleiben. Nicht nur um die Spurensicherung zu empfangen, die vom Fenster gegenüber Fingerabdrücke nehmen würde, sondern auch, um alle Nachbarn zu befragen und danach die Kinder von Saint-Croÿ, sobald sie nach Hause kämen. Die Kommissarin war dafür am besten geeignet. Aber sie wollte dem Fall so fern wie möglich bleiben, während Monot sich gerne einbringen wollte, es war sein erster Fall. Sie würde ihm dieses Vergnügen nicht nehmen.
» Würde es Sie stören zu bleiben, Augustin?«
Ganz eifriger Angestellter schüttelte er den Kopf, und sie erklärte ihm das Rahmenprogramm. Es würde Teil seiner Ausbildung sein. Folgsam notierte er alles.
Als sie gerade im Begriff war zu gehen, näherte sich ihr Saint-Croÿ etwas verlegen. » Commissaire, bevor Sie gehen, da wäre noch ein Detail, das ich Ihnen nicht gesagt habe, weil es mir so unbedeutend erschien. Aber jetzt, wo man versucht hat, mich zu ermorden, würde ich gerne…« Er sah aus wie ein gealtertes Bengelchen, das etwas ausgefressen hatte und gestehen wollte. » An dem Tag, als der Obdachlose umgebracht wurde, war ich genau nebenan, am Quai Conti, und diskutierte seit einer halben Stunde mit einem Antiquar. Die Feuerwehr fuhr keine hundert Meter an mir vorbei. Das ist noch nicht einmal ein Zufall, denn ich bin oft auf den Quais, man kann dort sehr Überraschendes ausgraben.«
» Sie waren Zeuge des Überfalls? Das hätten Sie gleich sagen müssen!«
» Nein, ich war nicht Zeuge, ich habe nur die Feuerwehr gesehen. Und gestern waren Sie ja nicht zum Reden aufgelegt. Außerdem gehöre ich nicht zu denen, die sich nach jedem Anschlag damit rühmen, eine Stunde vorher dort vorbeigekommen zu sein, verstehen Sie, was ich meine?«
Sie verstand. In diesen Dingen war sie wie Saint-Croÿ. Sie gab ihm ihren Segen und ging zur Tür.
Dieses Mal war es Monot, der sie zurückhielt. » Und was machen wir mit der Presse, Commissaire?«
Die hatte sie ganz vergessen. Ohne die wäre es auch zu einfach. » Minimaler Service, ich kümmere mich. Das regeln wir morgen Abend
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