Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
entgegen. » Der lag im Briefkasten.«
Auf dem sehr gewöhnlichen Umschlag ohne Briefmarken prangten Name und Dienstgrad von Viviane, auf einen Aufkleber gedruckt. Sie öffnete ihn und brach in Lachen aus. Ein hässliches, nervöses, müdes Lachen. Der Umschlag enthielt lediglich ein Blatt, auf das eine sehr vornehme Visitenkarte geheftet war, in englischer Schrift, auf dickem Bristolpapier: Astrid Carthago, Medium. Jenseitskontakte. Ganz unten: 72, Avenue de La Motte-Picquet, 75015Paris. Und eine Telefonnummer.
Und fett gedruckt auf dem Blatt diese wenigen Worte: Eine interessante Informationsquelle in der Sache Baudelaire.
Sie stürzte ins Großraumbüro: Monot aktualisierte seinen Pressespiegel, Lieutenant Juarez verfasste einen Bericht, der nie gelesen würde, Brigadier Gamoudi verhandelte mit einem Schrotthändler, Capitaine De Bussche versuchte sich, ein Wörterbuch in der Hand, an der Übersetzung eines anonym verfassten Briefes in Chinesisch, Escoubet trank Kaffee, Pétrel telefonierte mit seiner Frau und Wachtmeister Kossowski versteckte noch schnell Uppercut – das Boxmagazin. Eine gute Freitagabendstimmung.
Den Brief in der Hand, baute sich Viviane vor Monots Schreibtisch auf. » Sehen Sie, wo das hinführt, Ihr Theater mit den Zeitungen? Sehen Sie mal, was ich bekommen habe, eine Einladung zu einem Medium!« Sie hatte das laut gesagt, fast gebrüllt, das ganze Büro drehte sich nach ihr um. Unter dem mitleidigen Blick von einem halben Dutzend Männeraugen fühlte sie sich geschwächt, leicht lächerlich. Das Unwohlsein vom Vorabend hatte sich noch nicht verflüchtigt.
Zumal Monot vorsichtig mit ihr sprach, wie mit einer Kranken: » Wer sagt uns denn, dass wir sie als Medium aufsuchen müssen? Vielleicht ist sie als Person für uns interessant. Das ist es doch wohl auch, was die Legende unter der Karte meint.« Monot sah sich die Karte aufmerksam an, Viviane wusste, was er vorschlagen würde. » Wenn Sie möchten, Commissaire, kann ich hingehen. Man weiß ja nie.«
» Damit das morgen in allen Zeitungen steht? ›Polizei lässt sich von Medium helfen‹? Nein, nein, mit Ihnen weiß man nie… Lassen Sie, ich werde gehen.« Viviane wandte sich in den Raum. » Kein Wort zu den Medien, nicht zu den Kollegen, zu niemandem.« Und zu Monot mit mörderischer Stimme: » Nicht mal zu Ihrer Priscilla oder zu Miss 20 minutes, ist das klar, Lieutenant?« Sie flüchtete ins Büro zurück und ließ die Tür auf, um jeden spöttischen Kommentar zu unterbinden, dann wählte sie die Nummer von Astrid Carthago.
Eine recht junge, melodiöse Männerstimme antwortete ihr: » Ich bin Christophe, Madame Carthagos Assistent. Ich mache ihren Terminplan.«
Viviane nannte ihren Namen und bat um einen Termin.
Christophe lachte schelmisch. » Oh, ich habe eine gute Nachricht für Sie, für morgen früh hat jemand abgesagt, ich hätte einen freien Termin um neun Uhr. Sonst haben wir erst in drei Wochen wieder etwas.«
Erleichtert nahm sie den Termin an. Samstag um neun Uhr würde niemand auf der Straße sein, alles würde diskret ablaufen.
Christophe fügte hinzu: » Denken Sie daran, einen Vektor zur Kontaktaufnahme mitzubringen.«
» Einen was?«
» Einen Vektor. Ein Foto, ein Bild, eine Grundlage, auf deren Basis Madame Carthago arbeiten kann. Und: Wir akzeptieren weder Schecks noch Kreditkarten.«
Sie legte auf, ohne dass sie sich getraut hätte zu fragen, was eine Sitzung kostete. An diesem Abend sündigte sie gegen ihre Trennkostdiät und schlief schlecht.
Kapitel 9
Samstag, 2 . Februar
Auch wenn sie sich dagegen wehrte, fand Viviane diesen Besuch aufregend. Sie war noch nie bei einer Hellseherin oder einem Medium gewesen. Sie hatte sich davon ferngehalten, um nicht das Gefühl zu bekommen, in ihrem Leben zu schummeln. An diesem Tag hatte sie endlich einmal eine Entschuldigung dafür, das zu tun, was sie schon lange tun wollte.
Die Räumlichkeiten von Astrid Carthago befanden sich am unteren Ende der Avenue de La Motte-Picquet, im engsten, am dichtesten bevölkerten Teil der Straße, im beliebtesten Teil. An diesem Morgen merkte man davon allerdings wenig. Der Einstieg in den Februar war so kalt, die Betten an diesem Samstagmorgen so gemütlich, dass die Straße ganz leer war. Nur wenige Passanten, die aus der Bäckerei kamen und an ihrem noch warmen Baguette knabberten. Auf dem Gehweg gegenüber ein Typ in einem dicken Blouson, der auf ein Taxi zu warten schien. Er hatte seine Hände in einer Schultertasche
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