Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
vergraben, als wolle er sie warm halten.
Neben der Haustür kündigte eine nüchterne Marmorplatte an: Carthago, Beratung. Viviane strich mit der Hand bewundernd über den polierten Stein. Beratung, man könnte meinen, es handelte sich um eine Erbschafts- oder Eheberatung. Vielleicht gab es die bei Carthago ja als Bonus.
Kaum war die Tür geöffnet, machte sich Enttäuschung in ihr breit. Sie hatte auf dunkle Räume gehofft, die nach Weihrauch rochen, mit Samt ausgeschlagen und mit vedischen Statuen vollgestopft waren; Christophe hatte sie sich als einen feinen jungen Mann mit eurasischen Zügen vorgestellt, in Seide gekleidet. Aber nichts von alldem: Astrids Assistent hatte breite, quadratische Hände, und so waren auch seine Schultern, sein gutmütiges fröhlich-bretonisches Gesicht, das zur Hälfte in einem dicken Rollkragenpullover steckte. Die Räumlichkeiten waren sehr hell und spärlich möbliert. Christophe führte sie in ein kleines Büro und gab ihr einen Fragebogen, den sie, mit kurzem Zögern bei der Spalte » Beruf«, sorgfältig ausfüllte: Sie schrieb dann » Sozialhelferin«, was der Wahrheit einigermaßen nahe kam. Was war schließlich ein Bulle, wenn nicht der Sozialhelfer einer kranken, auf sich gestellten Gesellschaft? Danach ließ Christophe sie eine Erklärung unterschreiben, mit der sie auf jedweden rechtlichen Anspruch gegen Astrid Carthago verzichtete, ganz gleich, was bei der Beratung herauskommen würde.
» Warum? Passiert es oft, dass nichts dabei herauskommt?«
» Nein, im Gegenteil. Astrid Carthago nimmt Kontakt zu den Verstorbenen auf, das kann einen sehr mitnehmen. Wir hatten schon mehrere Nervenzusammenbrüche«, fügte er ergänzend hinzu, stolz wie ein General, der von verlorenen Schlachten erzählt.
» Die Toten kommen zurück? Und sie sprechen?«
» Oh, das ist eher etwas für eine Zirkusvorstellung. Nein, die Toten schreiben. Madame Carthago hält ihnen den Stift, und sie führen ihn.«
» Lassen Sie auf diese Art viele Tote schreiben?«
» Jeden Tag von neun bis sechzehn Uhr, außer am Sonntag. Das nimmt kein Ende.« Er nahm die unterschriebene Erklärung an sich und flüsterte: » Wegen der Kosten: hundert Euro für den Anfang. Dann zweihundert Euro für jede Viertelstunde, sobald der Kontakt steht. Sie zahlen danach.«
Eine Klingel ertönte.
» Gleich sind Sie dran«, sagte Christophe beim Hinausgehen. Man hörte eine kurze, leise Unterhaltung, das Geräusch einer zugezogenen Tür, dann kam Christophe zurück, um Viviane in das Büro von Astrid Carthago zu bringen.
Sie war genau wie ihr Sprechzimmer, ganz in zartem Lila, und roch gehörig nach Veilchen. Eine Blonde mit Brille, etwas über vierzig, stark geschminkt, wie um den traurigen Blick eines Menschen abzumildern, der sich zu viel mit Toten abgibt.
» Nun, wen soll ich rufen?«, fragte sie wohlwollend.
Viviane konnte sich nicht entschließen, bei wem sie anfangen sollte, sie hatte Angst, die Geister zu stören. Sie holte das Foto von Pascal Mesneux aus ihrer Tasche, das Monot im Leichenschauhaus gemacht hatte.
» Aber das ist ja Victor Hugo!«, rief Astrid fröhlich aus.
» Nein, das war ein Obdachloser: Pascal Mesneux. Er sah Victor Hugo ähnlich, nannte sich Victor Hugo, war aber nicht Victor Hugo.«
» Ach, schade. Ich kommuniziere häufig mit Schriftstellern, und der Kontakt zu Victor Hugo ist sehr einfach. Manchmal erscheint er, ohne dass ich ihn gerufen habe, und man wird ihn nur schwer wieder los.«
Sie legte eine Hand auf das Foto und streichelte es behutsam. Mit der anderen griff sie einen Block und einen Stift. » Sagen Sie nichts, außer ich frage Sie etwas«, befahl Astrid.
Carthagos Blick war wundersam leer geworden, sie war woanders und murmelte eine unverständliche Psalmodie. Ihre linke Hand kreiste langsam über dem Porträt von Pascal Mesneux. Sie verkrampfte sich. » Da ist er! Geist von Pascal Mesneux, hast du uns etwas zu sagen?«
Viviane wusste nicht, ob sie lachen oder zittern sollte. Astrids rechte Hand begann zu schreiben, ruckartig. Viviane konnte es nicht lesen, sie müsste sich das für später aufheben. Die Miene ihres Mediums hatte sich verzogen, wirkte beinahe aufgedunsen.
» Was möchten Sie wissen, Madame?«, fragte Astrid.
» Weiß er, wer ihn getötet hat?«
Die Hand des Mediums kritzelte einige weitere Wörter, das müsste wohl die Antwort sein, die Kommissarin zuckte zusammen.
» Haben Sie noch andere Fragen? Schnell, er geht«, sagte das Medium.
Viviane fühlte
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