Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
Schöneres!«
Unter dem heutigen Datum stand Cucheron, 06 62 31 50 35. 11 Uhr 45.
» Sieh an! Der andere Grafologe! Rufen Sie ihn an. Bestellen Sie ihn zu uns, um zwanzig Uhr.«
Cucheron kam am Abend aufs Revier. Ein Mann, mittelgroß, untersetzt, rothaarig, mit sehr weißer Haut und blauen Augen.
» Sie haben mich zu einer merkwürdigen Zeit bestellt, Commissaire.«
Viviane wich etwas zurück. Dieser Typ hatte bestialischen Mundgeruch, die Unterhaltung würde mühsam werden. » Oh, Sie hatten heute wohl auch eine merkwürdige Zeit«, sagte Viviane während sie ihn in ihr Büro ließ. » Setzen Sie sich.«
Jean-Paul Cucheron legte seine Handschuhe aus Pekarileder auf den Tisch, holte einen Kamm heraus, fuhr sich damit dreimal nervös durchs Haar und stieß einen verheerenden Seufzer aus. Viviane gab Monot ein Zeichen, er solle sich in ihre Nähe setzen, außerhalb seiner Reichweite.
Cucheron sah sie an, die eine, den anderen, mit einem sorgenvollen Lächeln. » Man könnte meinen, es handle sich um ein Verhör.«
» Sagen wir mal so, wir hätten da einige Fragen. Haben Sie Ihre Kollegin Élisabeth Blum heute gesehen?«
» Ja, am späten Vormittag. Ich hatte sie um ein Treffen gebeten.«
» Aus welchem Anlass?«
» Wegen des Sonetts natürlich. Ich hatte bei mir ein Büchlein aus den zwanziger Jahren gefunden, eine Monografie über die Handschrift von Baudelaire und ihre Entwicklung über die Jahre. Eine kleine Studie von einer unbekannten Grafologin mit einem unmöglichen russischen Namen, in der Art Kisky-Dingsdaja, sie wird es Ihnen zeigen. Genau genommen ist es nicht einmal ein Buch, sondern ein Heft in einem lila Einband, verlegt von einer Druckerei. Das gab es zu jener Zeit häufig, ob es die Memoiren der Großmutter oder die Kriegserinnerungen zweier alter Oberste waren.«
» Könnten wir bitte zum Thema zurückkommen?« Es fiel ihr schwer, ihren Ärger zu unterdrücken. Warum konnten diese Literaten keine Frage beantworten, ohne auf eine andere zu kommen?
» Aber ich bin ja beim Thema: Ich wollte ihr das Buch ausleihen, wenn sie es gebrauchen könnte. Um ehrlich zu sein, wollte ich ihr auch meine Mitarbeit an diesem Fall anbieten. Ich war bereit, auch unentgeltlich zu arbeiten, aber ich wollte mit dem Gutachten in Verbindung gebracht werden, das wäre für mein Image gut gewesen. Ich sagte Ihnen bereits, ich verstehe nicht, dass man es nicht mir gegeben hat.«
» Und weiter?«
Cucheron seufzte genervt. Viviane geriet ins Wanken.
» Was das Sonett betraf, sagte sie mir, es sei zu spät. Sie sei quasi fertig mit der Analyse, sie müsse nur noch ihre Notizen zur Hand nehmen und das Gutachten formulieren. Aber mein Heftchen interessierte sie lebhaft, sie wollte es gerne einige Tage behalten. Dann haben wir über die Arbeit geredet: Sie schien viel Arbeit zu haben, viele Kunden, ich dagegen habe zu wenig. Ich habe sie gefragt, ob es nicht eine Möglichkeit der Zusammenarbeit gebe, im Sinne einer Provision oder einer Zulieferung, verstehen Sie, was ich meine?«
» Geht so. Wissen Sie, Provisionen und Zulieferungsaufträge gibt es bei der Polizei nur selten. Und was ist dann passiert?«
» Ich habe sie zum Essen eingeladen, um darüber zu sprechen. Aber sie wollte nicht raus, sie hatte Angst– nach all diesen Geschichten mit dem Sonett. Um sie zu beruhigen, habe ich ihr die Pizzeria genau neben dem Kommissariat vorgeschlagen, auf dem Boulevard Garibaldi. Sie willigte schließlich ein, und wir haben den Fahrstuhl genommen. In dem Moment, als wir die Kabine verließen, klingelte ihr Handy. Sie hat nicht abgenommen, aber sie sagte mir, sie könne doch nicht essen gehen und würde mich zurückrufen. Dann ist sie wieder hochgefahren.«
» Der Fahrstuhl war noch unten?«
» Ja, natürlich, ich hatte die Tür noch nicht zugemacht.«
» Wie spät war es?«
» Zwölf Uhr irgendwas. Das kann Ihnen die Concierge bestätigen, die kam gerade mit ihrem Kind von der Schule. Als sie hereinkam, hat sie gesehen, wie wir uns verabschiedet haben. Wir haben uns gegrüßt.«
Vivianes Gedanken verfinsterten sich. Man hatte das Handy weder in Madame Blums Wohnung noch bei ihr selbst gefunden. Was war daraus geworden? Und dieses lila Heft hatte sie auf dem Schreibtisch der Grafologin auch nicht gesehen. » Und dann?«
» Bin ich alleine in die Pizzeria gegangen. Von dort habe ich einen Kollegen angerufen, der im Viertel wohnt. Wir haben zusammen gegessen. Ich kann Ihnen seine Kontaktdaten geben. Aber wozu all diese
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