Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
in einer kleinen, provinziellen Straße, die sie träumen ließ: Warum hatte sich die Kriminalpolizei nicht in so einem Paradies niedergelassen, weit weg von der Heftigkeit der Stadt, statt in der Avenue du Maine, wo die Autos wie über eine Rutsche fuhren und Kielwasser aus Feuer und Blut hinter sich ließen? Die Kripo hätte es dann nur noch mit lärmenden Hunden und verloren gegangenen Fahrrädern zu tun. Aber klar war auch: Hier, in diesem Paradies, war die Grafologin ermordet worden. Die Polizisten aus dem Kommissariat vom 15. Arrondissement erwarteten Viviane vor der Tür.
» Welche Etage?«, fragte sie.
» Wie Sie wollen«, antwortete der Ältere mit lautem Lachen.
» Ich frage nach der Etage.«
» Haha, sie wurde im Fahrstuhl getötet.«
Ein Wachpolizist als Komiker war wie ein Truppenunterhalter, nur plumper. Viviane rang sich ein Lächeln ab und ging hinauf. Man hatte den Fahrstuhl in der vierten Etage blockiert. Die Spurensicherung war schon am Werk, ebenso der Rechtsmediziner. Viviane kannte ihn: ein schweigsamer, ernsthafter Typ. Er schien dieser Toten beleidigt zu sein, die sich im Fahrstuhl hatte umbringen lassen. Die Kabine war winzig, man hatte den Körper auf die Treppe ziehen müssen, um eine Untersuchung durchzuführen.
» Und, Doktor, ist es schlimm?«
» Jedenfalls hat es ein schlimmes Ende genommen, ist gegen zwölf Uhr dreißig passiert, plus minus eine halbe Stunde. Erwürgt mit diesem rosa Tuch, das ihres zu sein scheint, es riecht nach demselben Parfüm wie sie. Schneller Tod.«
» War der Mörder ein Mann?«
» In der Regel werden Strangulationen von Männern verübt, ja. Aber diese Dame war so rachitisch, dass jeder das getan haben könnte. Nicht schwerer zu erwürgen als ein Hundebaby.«
Viviane warf einen Blick in die Wohnung: Die Spurensicherung war am Werk, es war so schön wie im Fernsehen.
» Wohnt sie hier, auf dieser Etage? War die Tür auf?«
» Nein, aber die Schlüssel waren in ihrer Handtasche.«
Viviane rief den wachhabenden Polizisten von unten zu: » Warum wurden wir so spät angerufen?«
» Weil man sie spät entdeckt hat. Ein Mieter aus dem Fünften hat sie gegen fünfzehn Uhr gefunden, als er runterfahren wollte. Er ist sich sicher: Der Fahrstuhl kam von der Etage unter ihm.«
Der Gerichtsmediziner hatte sich zu den Leuten der Spurensicherung gesellt. Viviane blieb vor der Tür stehen, zusammen mit Monot und Madame Blum– einer kleinen Frau mit gelblichem Teint, die durch das Erwürgen aufgedunsen war. Ihre allerletzte Grimasse hätte die abgebrühtesten Manga-Leser in Schrecken versetzt. Monot betrachtete sie und zog die Nase in Falten.
» Sie sind keine Leichen gewöhnt, was, Monot? Finden Sie die eklig? Sie werden sich einen Ruck geben müssen, das ist unser täglich Brot. Ohne Leichen keine Bullen.«
Aber Monot antwortete nicht. Er betrachtete noch immer die Leiche und schüttelte dabei den Kopf, er rang nach Luft.
» Es ist schwer zu erklären, Commissaire, aber ich fühle mich…«
» Ein bisschen schuldig, ist es das?«
Er brach in Tränen aus. So groß und so zerbrechlich wie er war, nahm sie ihn in den Arm und erlaubte ihm, sich gehenzulassen. Der harte Bauch ihres Assistenten drückte sich gegen ihre Brüste, und das Kinn vergrub sich gerade in ihren kurzen Haaren. Aber es tat ihm gut, dem Cherub. Und ihr auch. In diesem Moment traten Spurensicherung und Gerichtsmediziner vor die Tür und lächelten verlegen.
» Sie dürfen jetzt eine Runde drehen, aber fassen Sie nichts an. Wir warten im Treppenhaus auf Sie.«
Sie schickte Monot weg, um sich frisch zu machen und begann herumzuschnüffeln. Auf dem Arbeitstisch lagen die Fotokopien des Sonetts und der Großherzigen Magd herum. Sie war gerade dabei, das Gedicht zu lesen, als Monot eintrat.
» Das mit der Großherzigen Magd ist auch schön. Ist gelungen, diese Beschreibung von Leichen und Würmern, sagte sie und las laut vor:
» Indes sie selbst, zernagt von schwarzen Grübelein,
So ohne Bettgenossen und Gespräch, allein,
Erfrorene Gerippe, von Würmern ganz entstellt,
Verspüren, wie im Winter Schnee herniederfällt.«
Monot ließ ein poetisches Schweigen nachhallen. Er schien glücklich. » Ja, sehr schön, Commissaire. Ich werde Ihnen eines Tages darüber erzählen.«
Sie nickte und lächelte ihn an, lächelte ihn wirklich an. Dann setzte sie ein anderes Lächeln auf, ein Polizistenlächeln, und zeigte ihm den aufgeschlagenen Terminkalender. » Sehen Sie mal, hier ist etwas noch
Weitere Kostenlose Bücher