Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
müssen, ein Anruf hätte genügt. Was ich nicht verstehe– wie haben Sie mich gefunden? Jedenfalls will ich nichts damit zu tun haben, diese Sache geht mich nichts an.«
Irgendetwas war merkwürdig. Irritiert heftete die Kommissarin ihren Blick auf den Verdächtigen mit dem Unschuldslächeln. Und dann fing die erstaunlichste Befragung an, die sie je geführt hat. Der Typ antwortete jedes Mal mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit.
Louis Saint-Croÿ? Selbstverständlich kannte er den, und zwar schon lange! Natürlich kannte er Astrid Carthago. Pascal Mesneux kannte er nur aus den Zeitungen. Ah, nein, mit der Grafologin Élisabeth Blum war er nicht bekannt, aber mit einem anderen, äußerst fähigem: Jean-Paul Cucheron. Er kannte fast alle Akteure dieses Falls. Alle Protagonisten, wie Durisly gesagt hätte.
» Und der Dichter Baudelaire, sind Sie mit ihm verwandt?«
» Er hatte keine Kinder. Aber ich bin der Nachfahre eines seiner Cousins. Das ist aber kein Verbrechen, soviel ich weiß? Und, was noch?«
Monot regte sich auf und wurde laut, als wollte er ihn schlagen: » Sie schicken uns einen Brief, der am Tod zweier Menschen schuld ist und noch zwei andere in Lebensgefahr gebracht hat, und fragen uns, was noch?«
Baudelaire sah sie verdutzt an und kratzte sich dann heftig in der Achsel. » Von welchem Brief sprechen Sie eigentlich? Ich, ich habe einen anonymen Brief bei Ihnen hinterlegt mit der Visitenkarte von Astrid Carthago.«
Viviane und Monot waren sprachlos. Xavier Baudelaire schien genauso verwirrt wie sie. Er bot ihnen an, alles zu erzählen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Aber, warnte er, das sei eine alte Geschichte. » Wissen Sie, was ich vor einigen Jahren in einem alten Koffer gefunden habe, als ich unser Familienheim leerräumte?«
» Das Sonett!«, antworteten Viviane und Monot im Chor.
» Nein, ganz und gar nicht. Den Entwurf eines Briefes des Dichters Baudelaire an seinen Freund Théodore de Banville: Er bringt dort seine Begeisterung über einen unbekannten amerikanischen Autor, einen gewissen Edgar Poe, zum Ausdruck, den er kurz zuvor entdeckt und von dem er gerade eine Erzählung gelesen hatte, The Murders in the Rue Morgue, in den Prose Romances. Baudelaire kündigt Banville an, dass er alle Werke des Amerikaners übersetzen will, um ihn in Frankreich bekannt zu machen. Ich kannte mich nicht damit aus, also bin ich zu den Literaturwissenschaftlern der Universität Caen gelaufen, wo ein Professor mir sagte, dass das wertvoll sei und mir riet, mich an einen auf Baudelaire spezialisierten Sammler zu wenden, einen gewissen Louis Saint-Croÿ.«
» Da wären wir endlich!«, ermutigte Monot ihn mit einem auffordernden Lächeln.
» Saint-Croÿ hat sich den Brief angesehen und war wenig begeistert. Dieser Entwurf, wenn er denn echt sei, was ihm nicht sicher schien, wäre von geringem Interesse, weil es später zu einem definitiven und um einiges aufschlussreicheren Brief gekommen sei. Er hat mir einen sehr geringen Preis dafür geboten. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. Da fand ich in Pariscope eine Anzeige von Astrid Carthago. Ich habe sie konsultiert und sie gebeten, mit Baudelaire, dem Dichter, über diese Sache zu sprechen.«
Er erzählte das ganz selbstverständlich, ohne jenes skeptische Lächeln, das sich meist bei solchen Dingen einstellte.
Munter erzählte er weiter: » Sie konnte eine Verbindung mit Baudelaire herstellen: Der Dichter glaubte, sich an diesen Brief zu erinnern, war sich aber nicht sicher. Er hat mir geraten, ihn von einem Grafologen untersuchen zu lassen und vorsichtig zu sein, bevor ich ihn verkaufe.«
Viviane lächelte. Hätte der Erstbeste diese Ratschläge gegeben, wären sie banal gewesen. Aber wo sie doch aus dem Äther kamen, war das eine ernst zu nehmende Sache!
» Also«, fuhr Xavier Baudelaire fort, » habe ich den Brief von Cucheron begutachten lassen, der seine Echtheit bestätigte. Und ich habe noch bei der Sorbonne um Rat gefragt, wo man mir den Kontakt zum Edgar Allan Poe Museum in Richmond vermittelte, das mir den Brief teuer abgekauft hat. Ich habe mir davon dieses kleine Wohnbüro geleistet, in dem wir uns gerade befinden. Seitdem bin ich ein guter Kunde des Mediums. Meine Klienten, das sind die Züchter. Vor jeder großen Entscheidung gehe ich zu Astrid Carthago, um die lange verstorbenen Landwirte aus meiner Familie um Rat zu fragen. Und meine Geschäfte laufen gut.«
Baudelaire erklärte das in leicht devotem Ton, und Viviane musste
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