Tote Fische beißen nicht: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (German Edition)
die die kopierten Abhandlungen der Professoren enthielten. Gutes Zitat, dachte sie. Das ist von Hemingway? Respekt. Mit diesen Texten fange ich an. Ein Ordner dolce far niente wird sich nicht finden lassen, und dafür bin ich leider auch nicht hier.
Vier Stunden später schob sie den Stuhl zurück und streckte sich. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie sich sputen musste, um noch irgendwo ein Mittagessen zu ergattern.
Zielstrebig ging sie die Rue Cinsault hinauf bis zur Abzweigung nach Revel und versuchte es in der Brasserie gegenüber der Auberge Bonace. Sie war der einzige Gast. Touristen und Einheimische hatten um diese Zeit längst gegessen und hielten jetzt sieste unter den Sonnenschirmen am Strand. Auf ihren fragenden Blick hin nickte das junge Mädchen hinter der Theke freundlich und deutete auf einen Tisch am Fenster. Pippa stellte erfreut fest, dass sie von dort aus in den Hinterhof des Bonace blicken konnte, wo eine Frau mittleren Alters gerade den Kaffeetisch deckte.
Das muss Cateline sein, dachte Pippa, die Ähnlichkeit mit Lisette ist trotz des Altersunterschieds unübersehbar.
Die beiden jüngeren Didier-Söhne kickten einen Fußball über den Hof und trafen den Tisch. Zu Pippas Erstaunen schimpfte Cateline nicht, sondern schnappte sich lediglich den Ball und gab ihn nicht wieder her.
Ganz schön abgehärtet, dachte Pippa. Ich wäre wütend geworden – oder hätte völlig unergiebige Vorträge gehalten.
»Ist es schon zu spät für einen Croque?«, fragte sie, als die Kellnerin an ihren Tisch kam und nach ihren Wünschen fragte.
»Natürlich nicht. Madame oder Monsieur?«
»Ohne Ei, bitte«, erwiderte Pippa.
Die Bedienung nickte und verschwand in der Küche. Pippa beobachtete, wie Cateline den Ball immer wieder in die Luft warf und auffing, bis ihre Söhne den Wink verstanden und den Kaffeetisch wieder in Ordnung brachten. Als sie mit der Arbeit ihrer Sprösslinge zufrieden war, warf sie ihnen den Ball wieder zu.
Pippa musste lächeln, weil ihr bei dieser beeindruckenden Demonstration mütterlicher Gelassenheit die ungestüme Kinderbande der heimischen Transvaalstraße in den Sinn kam. Sie nahm sich vor, sich in Zukunft von Catelines Erziehungsstil inspirieren zu lassen.
Ein deutlich älterer Mann kam aus dem Haus. Cateline drehte sich zu ihm um, und sie umarmten sich wie frisch Verliebte.
Das muss Thierry Didier sein, dachte Pippa. Hut ab, die beiden verstehen sich also noch immer, trotz der äußerlich schwierigen Situation – oder gerade deswegen?
»Einmal Croque Monsieur, bitte sehr.«
Die junge Kellnerin stellte den überbackenen Käse-Schinken-Toast auf den Tisch und fragte: »Machen Sie hier Ferien, Madame?«
Da Pippa am ersten Bissen kaute, nickte sie nur. Dann sagte sie: »Ich beneide Sie. Sie dürfen leben, wo andere Leute Urlaub machen.«
Das Mädchen zog die Schultern hoch und wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht. Im Sommer ist es ganz nett hier, aber im Winter … todlangweilig. Alles wie ausgestorben, bis auf die kulinarischen Deutschkurse und natürlich die Angler, die schreckt gar nichts ab. Die kommen zu jeder Jahreszeit. Ich würde gern in Revel arbeiten, oder noch lieber in Toulouse.« Sie warf einen Blick zur Küchentür und dämpfte die Stimme. »Aber das erlauben meine Eltern nicht. Ich bin hier wie festgenagelt.«
Pippa sah hinüber in den Hof des Bonace, wo mittlerweile die ganze Familie um die Tafel saß und sich Kaffee und Kuchen schmecken ließ.
»Aber es gibt doch noch andere Jugendliche hier.« Pippa zeigte aus dem Fenster. »Da kann man doch etwas zusammen unternehmen.«
Das Mädchen warf einen kurzen Blick auf die Didiers. »Die? Mit denen ist man lieber vorsichtig …«
»Vielleicht findest du im Herbst neue Verbündete, da werden Freunde von mir mit ihren Kindern nach Chantilly ziehen. Daniel müsste etwa so alt sein wie du, und Bonnie ist vierzehn.«
»Das ist ja klasse! Endlich mal neue Leute in diesem Kaff. Wo werden die denn wohnen?«
Jetzt bin ich gespannt, dachte Pippa und sagte: »Rue Cassoulet 4.«
»Waaas?« Das Mädchen plumpste mit schreckgeweiteten Augen auf den Stuhl neben ihr. »Da spukt es!«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Da ist doch …« Das Mädchen unterbrach sich und zeigte verstohlen hinüber zum Hof des Bonace. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Da wohnten früher die Didiers.«
Jetzt schnappte Pippa nach Luft. Da Ferdinand und Lisette Legrand das Haus an die Peschmanns verkauft hatten, war sie
Weitere Kostenlose Bücher