Tote gehen nicht
befand Sonja und lief die Stiege hinauf, sie musste sie unbedingt lauter stellen. Aber ihr Handy lag nicht auf dem Nachttisch. Zurück im Erdgeschoss gelang es ihr beim siebten Klingeln, die Quelle des Geräusches zu orten, indem sie ein Ohr an eine Fensterscheibe hielt. Sie hatte das Handy draußen auf der Ofenbank liegen lassen, als sie auf dem Pferd geritten und nach dem Weg gefragt hatte.
Der Anrufer hatte inzwischen aufgegeben. Auf dem Display stand die Rufnummer. KK Euskirchen. In der Mailbox war eine SMS. Sie habe auf der Stelle im Büro zu erscheinen, da in einer knappen Stunde eine Besprechung anstehe. HK Roggenmeier, ihr Chef, ließ ausrichten, dass es dringend sei.
Das sind seine Besprechungen immer, sagte sich Sonja, und machte sich reisefertig.
Sie schnitt sich fünf Strohhalme auf Zigarettenlänge und steckte sie in ihr neues, silbernes Zigarettenetui. Die Frage der Kleiderordnung war schnell geklärt, Jeans, ein weiter, schwarzer Leinenblazer, weißes T-Shirt. Die neue Frisur, die sie sich zu Beginn ihres neuen Lebens ohne Harry zugelegt hatte, war praktisch, ohne so auszusehen. Darauf ihr Lieblingsstück, den dunkelgrauen Topfhut, zu setzen, verkniff sie sich, denn unter dem Filz würde sie bald einem Hitzestau erliegen. Sie musste sich bei nächster Gelegenheit einen Sommerhut zulegen. Einziger Schmuck war der rubinrote Lippenstift, den sie kürzlich entdeckt hatte, mit dem sie ihrem Gesicht mit zwei Strichen und ohne große Kunstfertigkeit eine lebhafte Note geben konnte.
Als sie die Haustür abschloss, waren seit dem Öffnen der Mail keine zehn Minuten vergangen. In einer halben Stunde würde sie wissen, wo Roggenmeier der Schuh drückte.
Sonja Senger parkte im Hof der Polizeibehörde auf der Kölner Straße. Zwei junge Polizistinnen hoben die Hand zum Gruß an ihre Mützen. Sie stellten sich neben die Eingangstür und zündeten sich Zigaretten an. Sie trugen beide blonde Pferdeschwänze und waren überschlank. Sonja inhalierte den vertrauten Geruch und kam sich überlegen vor.
Von den drei Schreibtischen in ihrem Büro am Ende des Flures war nach wie vor nur ihrer in Gebrauch. Sonja hatte aus der Not eine Tugend gemacht und die beiden unbenutzten Tische Tag für Tag ein wenig mehr mit Akten zugestellt, gerade so hoch, dass sie noch über sie hinweg aus dem Fenster schauen konnte. Nicht, dass die Aussicht besonders grandios gewesen wäre – sie blickte auf einen anderen Flügel der Polizeibehörde –, aber das Tageslicht sollte ungehindert ihr Büro und ihre Seele erhellen können. Sonja riss das Fenster auf, füllte Wasser in die Kaffeemaschine und legte ein Pad in den Behälter. In einem Anflug von Übermut legte sie ein zweites darauf. Sie wollte wach sein für Roggenmeier. Hellwach.
Roggenmeier war nicht allein, als sie sein Büro betrat. Ein Herr saß mit dem Rücken zur Tür auf dem besten Besucherstuhl. Sonja wusste sofort, um wen es sich handelte. So akkurat der Mittelscheitel, so gerade der Rücken, so dezent der Herrenduft, das konnte nur einer sein.
Roggenmeier sprang auf wie ein Läufer beim Startschuss. »Schön, dass Sie sich freimachen konnten!«, rief er und presste ihre rechte Hand mit seinen Händen zu einem Knochenhaufen zusammen, während der Kaffee in ihrer anderen Hand über den Tassenrand schwappte.
»Da waren die Augen wohl größer als die Tasse«, meinte Roggenmeier und verrieb mit den Schuhspitzen die Tropfen. »Sie setzen sich besser hin.« Er rückte den zweiten Besucherstuhl, einfache Holzklasse, vor seinen Schreibtisch, lief um den regungslosen Besucher herum, pflanzte sich auf seinen ledernen Chefsessel und lehnte sich zurück. Roggenmeier war ein drahtiger, kleiner Mann. Die Rückenlehne überragte seinen Kopf um einen halben Meter.
Sonja ließ sich nieder und tat überrascht, als sie endlich in Wesselings Gesicht blickte, das so miesepetrig war, als habe er ihre Mail bereits gelesen. Nase und Augen waren gerötet, also litt er noch unter seiner Pollen-Allergie. Ihr Mitleid hielt sich in Grenzen.
»Oh! Guten Morgen, Herr Oberstaatsanwalt.« Sie erhob sich andeutungsweise. »Sie hier?«
Er brummte etwas, was vermutlich »Je nun« heißen sollte. Er sollte dringend die einfache Peitsche trainieren, dachte Sonja, danach könnte er leichter Stellung beziehen.
Auch Roggenmeier würde es nicht schaden, ein wenig am Webstuhl zu arbeiten . Aber jetzt und hier schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um auf die Gesundheit der beiden Gesetzeshüter
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