Tote gehen nicht
sofort.«
»Darauf wird sich Edgar nicht einlassen«, widersprach Sonja, »er ist auf der Flucht. Er hat keine Zeit, aber dafür jede Menge Angst. Wir müssen uns schon etwas Zündendes einfallen lassen, etwas, wozu Edgar auf keinen Fall nein sagen kann.«
»Und was sollte das sein?«, fragte Roggenmeier.
9. Kapitel
14. Mai, 15.00 Uhr Gemünd-Steinfeld-Blankenheim
Zur gleichen Zeit ging Dr. Edgar Schramm und ging und ging und ging wie ein Roboter, dessen Batterie des Nachts aufgeladen wurde. Ein ausdauernder, starker Roboter der neuesten Generation, dem kein Anstieg und kein Abhang zu steil war, dem Sturm und Regen nichts anhaben konnten, der keinen Blick für die Schönheit seiner Umgebung hatte, der starr geradeaus blickte, seinen Auftrag erfüllte, sonst nichts, ganz gleich, was sich ihm in den Weg stellte: er ging, er ging, er ging, in stetig gleicher Geschwindigkeit, durch alles hindurch. Er war ein Roboter, der über Leichen ging und sein Gehirn ausgeschaltet hatte und über alles hinweghörte, auch über penetrantes Handyklingeln in seinem Rucksack. Einmal hatte er kontrolliert, wer der Anrufer war. Guido. Auf ein Gespräch mit seinem Bruder hatte der Roboter keine Lust.
Doch obwohl Edgar sich das Grübeln streng verboten hatte, um alle mentale Kraft zu bündeln und in seine Beine und Füße schicken zu können, geschah es immer wieder, dass sein Gehirn sich selbstständig machte und sich in die Endlosschleife begab und dachte, dachte, dachte.
Und was dabei herauskam, war nichts Gutes. Spitzte es sich zu, sodass Edgar glaubte, kaum noch Luft zum Atmen zu bekommen, blieb er stehen, schüttelte den Kopf ausgiebig und schlug sich gegen Stirn und Hinterkopf, als wolle er alle Synapsen an einen neuen Platz befördern. Diese Übung half ihm über eine knappe halbe Stunde hinweg. Dann drehte sich das Rad erneut. Wie sollte das enden?
Er befand sich erst auf seiner zweiten Doppeletappe. Etappen fünf und sechs. Gemünd – Steinfeld – Blankenheim. Auf der zweiten Hälfte.
Dass er verfolgt wurde, war nicht mehr zu übersehen. Vor dem Hubschrauber, der seit Stunden über dem Gebiet auf- und abflog, war er geflohen und hatte sich angewöhnt, nicht mehr auf, sondern neben dem Eifelsteig zu gehen. Nur ein paar Schritte neben der Spur. Sie genügten, um ihn unsichtbar zu machen, solange der Weg durch den Wald führte und er zwischen den Stämmen im Zickzack laufen konnte.
Unsichtbar für den Hubschrauber, der den Wanderweg abflog, als handele es sich um eine vielbefahrene Autobahn, auf der man Staus oder einen Unfall gemeldet hatte. Falls die Polizei auch Boden-Suchtrupps losgeschickt hatte, dann irrten sie anderswo umher, denn Edgar hatte noch niemanden entdecken können. Der Wald war sein Schutzschild.
Als er heute Mittag den Ort Golbach hinter sich gelassen und mit ihm das letzte Waldstück und eine milchig-weiße, leere Nebellandschaft betreten hatte, die kein Ende nehmen wollte und aus der sich nichts abhob, hatte er ein mulmiges Gefühl gehabt. Über die weiten Felder zu gehen, wo der Raps in fahlem Gelb durch den Nebel schimmerte, und die matten Wiesenblumen sich am Wegesrand entlangzogen wie eine bunte Kette, brachte ein seltsam unwirkliches Gefühl mit sich. Wenn er die Hand ausstreckte, glaubte er die Nebelschwaden berühren zu können, wenn er einen großen Schritt machte, hatte er das Gefühl, er trete mitten in sie hinein. Aber der dichte Nebel war seine Rettung ... Der Hubschrauber flog im Blindflug. Der Suchtrupp stocherte im Nebel.
Trotzdem grenzte es an ein Wunder, dass man ihn noch nicht entdeckt hatte. Vielleicht, hoffte er, suchten sie gar nicht ihn, sondern den Mörder. Vielleicht irrte der richtige Mörder hier irgendwo umher. Vielleicht war er ganz in seiner Nähe. Vielleicht würden sie ihn jeden Moment finden, und er selbst könnte endlich in Ruhe seine Wette gewinnen. Nicht vielleicht, sicher war es so, redete er sich zu.
Die ersten Häuser von Steinfelderheistert zu sehen, war wie eine Rückkehr in die reale Welt. Über einen Pappelweg gelangte er ins Kuttenbachtal, wo er einem Quellgraben entlang stetig bergan bis zur hohen Klostermauer aus Bruchstein stieg. Der Weg wand sich wie ein Alpenpass. Während rechter Hand einige Pferde friedlich grasten, gewährten zur Linken kleine Mauerausschnitte kurze Einblicke ins Klostergelände, das eine Basilika, einen Kreuzgang und eine Kapelle, ein Gästehaus, eine Akademie und nicht zuletzt ein Gymnasium und ein Internat beherbergte. Die
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