Tote gehen nicht
armseligen Gestalt, die mit dem Gesicht zur Wand, breitbeinig, mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken gefesselten Händen direkt hinter der Tür stand. Relativ klein und schlank, in unordentlicher Kleidung, ein Streuner.
Welchen armen Sünder, fragte sich Sonja, ließen sie da so lange stehen, bis er geständig war? Eine Unsitte! Sie wollte gerade einschreiten, als Wesselings stolzer Blick sie traf, als habe er den Gefangenen selbst unter Einsatz seines Lebens gemacht.
»Wer ist das denn?«, fragte sie.
»Umdrehen«, befahl Roggenmeier dem Gefangenen.
Der Mann, der sich zögernd umdrehte, war braungebrannt. Er trug eine beigefarbene Cordjacke, eine ausgebeulte, schwarze Hose und ausgetretene Turnschuhe. Roggenmeier rief den Wachmann herein, der den Gefangenen von seinen Handschellen befreite.
Der Mann schüttelte seine Hände aus, griff mit einer Hand in seine Jackentasche, holte eine schwarze Baskenmütze heraus und setzte sie sich auf die fusseligen, mittelblonden Haare. Sein struppiger Schnurrbart war nicht von der gleichen Farbe. Er blinzelte, als hätte er lange kein Tageslicht gesehen.
»Stellen Sie sich der Dame mal vor!«
»Schramm«, sagte er und stand stramm.
Sonja fiel der Strohhalm aus dem Mundwinkel. »Dr. Edgar Schramm?«
»Nein, Guido Schramm.«
Sonja überlegte. »Also, sein jüngerer Bruder?«
Der Gefangene nickte.
»Wie kommen Sie denn hierher?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Die Kurzfassung reicht«, forderte Wesseling ihn auf, setzte sich hin und legte seine Hände in den Schoß.
Sonja fand, dass etwas fehlte, aber sie kam nicht darauf, was es war. Seine Hände schienen leer.
Roggenmeier nahm in seinem Chefsessel Platz. Er lehnte sich an und wippte auf und ab.
»Das war so«, begann Guido Schramm, kratzte sich an seinem Schnurrbart und suchte nach einem Anfang. »Edgar ...«
»Bitte etwas genauer«, unterbrach Roggenmeier ihn sofort.
»Mein Bruder, Dr. Edgar Schramm, wohnhaft hier in Euskirchen, seines Zeichens Facharzt für innere Krankheiten in der Klinik am Wald ...«, leierte Guido genervt herunter, »hat bei einem Preisausschreiben eine Reise auf einem Kreuzfahrtschiff gewonnen und mir den Gewinn gegeben, weil er etwas Dienstliches vorhatte. Die Reisepapiere wollte er nicht ändern lassen, weil ihm das zu teuer war, oder was weiß ich. Deswegen hat er mir einfach seinen Personalausweis gegeben.« Guido Schramm wies auf Roggenmeiers Schreibtisch. Dort lag das Exemplar in einem Beweisbeutel. »Ich habe ihm gleich gesagt, das geht schief. Wir ähneln uns praktisch kaum. Aber Edgar meinte, dass keiner was merken würde. Erst ging auch tatsächlich alles gut.«
»Niemandem ist aufgefallen, dass Sie mit falschen Papieren unterwegs waren?«, fragte Sonja ungläubig.
Guido zögerte, als müsse er über die Frage nachdenken, er wog ab, dann sagte er: »Nein.«
Roggenmeier meldete sich mit einem Räuspern zu Wort. »Wenn er keinen Blödsinn gemacht hätte, dann wäre er heute noch an Bord. Aber so kam, als das Schiff in Alicante anlegte, die Guardia Civil an Bord und hat ihn einkassiert.«
»Was hat er denn angestellt?«, fragte Sonja neugierig.
»Er hat die Bordgewalt des Kapitäns infrage gestellt.«
»Wie das?«
»Er hat einen Fehlalarm ausgelöst.«
»Aus Versehen!«, mischte sich Guido ein. »Aber das wollte mir der Kapitän nicht glauben.«
»Und da hat er mit ihm diskutiert?«, fragte Sonja ihren Chef.
»Nein, nein«, meinte Roggenmeier. »Er hat ihn einen Versager genannt. Daraufhin hat der Kapitän ihn des Schiffes verwiesen. Und der Guardia Civil kam – dank der internationalen Fahndung, die Oberstaatsanwalt Wesseling veranlasst hatte, – der Name Edgar Schramm, sagen wir, irgendwie bekannt vor.« Er grinste verschmitzt.
»Pfiffige Kerle!«, sagte Sonja anerkennend.
Wesseling räusperte sich. Als Roggenmeier und Sonja zu ihm hinüberblickten, blies er vor Stolz die Wangen auf und reckte das Kinn in Erwartung einer Lobeshymne.
Sonja wollte gerade dazu ansetzen, aber Guido Schramm vermasselte ihr die Chance. »Wegen Edgar, diesem Versager, hat mich die spanische Polizei vom Schiff gezerrt, zum Flughafen verschleppt und in den nächsten Flieger nach Köln verfrachtet. Am Flughafen bin ich dann von dem Herrn da«, Guido Schramm wies auf Wesseling, »in Haft genommen worden. Und nun bin ich hier.« Er breitete die Arme aus und ließ seine suchenden Blicke im Büro umherschweifen. »Und wo ist meine Tasche?«
»Hier.« Roggenmeier hob eine
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