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Tote gehen nicht

Tote gehen nicht

Titel: Tote gehen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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hinaus. Noch vor dem Schillertsberg verabschiedete sich an einer Wegkreuzung der Jakobsweg und schlängelte sich gen Westen, während der Eifelsteig, kaum hatte er den Wald erreicht, über einen Holzsteg auf den Brotpfad mündete, dem Edgar laut Karte und GPS bis Ripsdorf, noch gute zehn Kilometer, folgen sollte. Der Brotpfad war schmal und steil, und Edgar erinnerte sich an die Aufzeichnungen, die er darüber gelesen hatte.
    In den vergangenen Jahrhunderten kamen die Menschen aus den umliegenden Dörfern, wie Ripsdorf oder Alendorf, um ihr selbstgebackenes Brot in Blankenheim zu verkaufen. Blankenheim, ein ungeliebter Ort, das regionale Zentrum, in dem Steuern, Abgaben und Pacht zu zahlen waren. Man ging diesen Weg nicht gern, hatte aber keine andere Wahl.
    Ähnlich erging es an diesem Morgen auch Edgar.
    Er hatte heute eine Strecke von 17,5 Kilometern vor sich. Eine Kleinigkeit, verglichen mit dem, was er an den zurückliegenden Tagen absolviert hatte. Die erste Doppeletappe, Roetgen-Monschau-Einruhr, war mit ihren 41,5 Kilometern sicher die größte körperliche Herausforderung gewesen. Aber gegen die seelische Pein, die danach gekommen war, war sie nichts.
    Zu Unrecht als verdächtigter Mörder betrachtet zu werden, der kein Motiv, aber auch kein Alibi vorzuweisen hatte, und der nicht wusste, ob sich heute der wahre Täter aus dem Schatten hervorwagte, das zermürbte ihn so sehr, dass er auch jetzt wieder mit den Tränen kämpfen musste. Er nahm die Brille ab, schnäuzte sich mit einem Papiertaschentuch und gab sich dem Selbstmitleid hin. Es tat gut. Es nahm den Druck, der die ganze Zeit wie ein Kloß in seiner Kehle geklebt hatte. Er schleifte den langen Wanderstock kraftlos hinter sich her. Er bummelte. Er hatte keinen Grund mehr, sich zu beeilen. Das Spiel war aus.
    Vielleicht sollte er froh sein, wenn heute der Gewaltmarsch zu Ende ging! Die Lust am Wandern war ihm längst vergangen. Der Oberstaatsanwalt hatte gut reden, er solle gehen, als sei nichts geschehen.
    Die Kommissarin, die ihm den Vortrag über Stalking gehalten hatte, hatte ihm dringend empfohlen, sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen und die   Klinik am Wald   zu verlassen. Sie hatte wahrscheinlich recht, nein, sie hatte ganz sicher recht. Die Erkenntnis war ein Trost. Es spielte also keine Rolle mehr, dass er die Wette verlor und den Posten des Chefarztes nicht bekam. Er zog die Nase schniefend hoch und setzte seine Brille wieder auf. Er würde anderswo neu anfangen. Er war noch jung.
    Nach allem, was die Kommissarin gesagt hatte, fürchtete er sich inzwischen vor dem Treffen mit Lutz. Heute war der Tag, an dem sich ihre Wege kreuzen mussten. Edgar hatte sich an die Anordnung der Kommissare Neugebauer und Brummer gehalten, es war ihm nichts anderes übrig geblieben, denn sie hatten mit gespitzten Ohren neben ihm auf der Bettkante gesessen, als er Lutz anrief. Lutz ging davon aus, dass alles in Ordnung war.
    Edgar blieb stehen. Er hatte die Kuppe des Hügels erreicht und war vor einer Schutzhütte angekommen. Der Inschrift nach stammte sie aus dem Jahre 1973. Drinnen saß niemand, auch nicht der Lockvogel, den die Kommissare ihm angekündigt hatten. Im Stillen hatte er gehofft, dass dort jemand auf ihn wartete. Edgar war gespannt, wer es sein und wann er auftauchen würde. Vermutlich eine Polizistin, ausgebildet in Nahkampf und bewaffnet bis an die Zähne. Er wäre im Augenblick für jede Begleitung dankbar. Jeder, der ihn von seinen inneren Qualen ablenken konnte, wäre ihm willkommen.
    Edgar trat näher. Die Hütte war mit Bänken und Gardinen, einer Tischdecke, Toilettenpapier und einem Gästebuch ausgestattet. Er begann im Gästebuch zu blättern. Gut gelaunte Wandervögel hatten sich frisch, fromm, fröhlich und frei verewigt und Liebespaare sich ewige Treue geschworen und Herzen gemalt, die von Amors Pfeil aufgespießt wurden. Edgar ertappte sich dabei, wie er unsinnigerweise nach einem Herz suchte, in dem R+E stand.
    Edgar seufzte und blätterte zur nächsten Blankoseite. Früher – vor all dem Schrecklichen – hätte er einen spöttischen Spruch voller Schadenfreude für Lutz hinterlassen. Heute stand ihm nicht der Sinn danach. Er hatte auch unterwegs keine Fotos mehr gemacht, er hatte auch nicht mehr um einen Stempel in Blankenheim gebeten. Wozu auch? Die Wette war gelaufen.
    Er hielt sich nicht lange in der Schutzhütte auf, sondern ließ sich weiter auf dem Brotpfad treiben, bergab durch Laubund Nadelwald, über eine waldfreie

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