Tote im Salonwagen
wenn nicht schon Mittag. Der Organismus hatte sich genommen, was ihm zustand – zehn oder noch mehr Stunden vollkommene Ruhe.
»Was machen die Verletzungen? Was ist mit dem Geld?« fragte Nadel schon auf der Schwelle und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Was letzte Nacht passiert ist, weiß ich schon. Matwej ist bei uns. Ganz Moskau spricht von der Schlacht auf dem Bahngelände. Burljajew ist tot, das steht fest. Noch etliche Polizisten mehr, heißt es. Aber was erzähle ich Ihnen das, Sie waren ja dabei …«
Ihre Augen waren anders als sonst, lebendiger, voller Licht – und auf einmal sah man, daß sie durchaus nicht zum »alten Eisen« gehörte. Eine strenge, entschlossene Frau, die wohl schon einiges durchgemacht hatte – das war alles.
»Sie sind ein echter Held!« sagte sie in ruhigem, ernsthaftem Ton, so als handelte es sich um eine wissenschaftlich verbürgte Tatsache. »Sie alle sind Helden. Nicht schlechter als seinerzeit die Narodowolzen.«
Und dabei schaute sie so, daß er sich unbehaglich fühlte.
»Die Verletzungen stören nicht mehr. Das Geld ist auf den Weg gebracht. Es kommt heute noch in Petersburg an«, beantwortete er die Fragen der Reihe nach, »Burljajew – wußte ich nicht, aber gut. Etliche Polizisten, das dürfte eine Übertreibung sein, ein paar haben wir umgelegt.«
Und jetzt konnte er zur Sache kommen. »Wir brauchen erstens ein anderes Quartier. Und zweitens Sprengstoff. Zünder auch. Stoßzünder und chemischen.«
»Nach einem Quartier sehen wir uns um. Bis zum Abend finden wir eins. Zünder können Sie haben, so viel Sie wollen. Letzten Monat ist ein ganzer Koffer voll aus Petersburg geliefert worden. Mit Sprengstoff sieht es schlechter aus. Den müßte man anfertigen …« Sie preßte beim Nachdenken die schmalen, fahlen Lippen zusammen. »Vielleicht bei Aronson. Ich habe seine Fenster im Auge, es gibt keine Alarmsignale. Ich denke, man könnte es riskieren. Er ist Chemiker, wahrscheinlich weiß er, wie es geht. Die Frage ist, ob er will. Wie ich Ihnen schon sagte, er verabscheut den Terror.«
»Dann besser nicht.« Grin tastete die Rippe ab. Er spürte keinen Schmerz mehr. »Ich mache es selber. Er soll bloß die Zutaten beschaffen. Ich schreibe auf, was ich brauche.«
Während er schrieb, spürte er ihre Augen unverwandt auf sich ruhen.
»Mir fällt erst jetzt auf, wie ähnlich Sie jemandem sehen …«
Grin, der gerade dabei war, das lange Wort »Nitroglyzerin« zu schreiben, blickte auf.
Nein, sie sah ihn gar nicht an, sie sah zur Decke.
»Sie sind schwarz, er war blond. Auch das Gesicht war ein ganz anderes. Aber der Ausdruck war derselbe, und wie Sie den Kopf drehen … Sein Parteiname war Zauberer. Weil er so großartige Kartentricks kannte. Für mich hieß er Tjoma. Wir sind zusammen aufgewachsen. Sein Vater war Verwalter auf unserem Gut in Charkow …«
Vom Zauberer hatte Grin gehört. Er war vor drei Jahren in Charkow gehenkt worden. Es hieß, der Zauberer hätte eine Verlobte gehabt, die Tochter eines Grafen. Eine wie Sofja Perowskaja 1 . So war das also. Mehr mußte nicht gesagt werden . Den Rest der Geschichte konnte Grin sich mühelos selber denken.
»Wir werden das Haus nicht verlassen«, sagte er so sachlich wie möglich, um Nadel über den Moment der Schwäche hinwegzuhelfen. »Wir warten, bis Sie wiederkommen. Das Wichtigste ist das Quartier. Und dann die Chemikalien.«
Gegen Abend läutete es wieder. Grin schickte Jemelja und Stieglitz zur Hintertreppe und ging selbst öffnen, wobei er zur Sicherheit eine Bombe in der Hand hielt.
Auf dem Fußboden des Korridors, nahe der Wohnungstür, schimmerte ein weißes Rechteck.
Ein Umschlag. Jemand hatte ihn durch den Briefschlitz geworfen.
Grin öffnete die Tür.
Keiner zu sehen.
HERRN GRIN! EILT!
stand in Druckbuchstaben auf dem Umschlag.
Seltene Gelegenheit: Heute abend, 10 Uhr, können Sie beide Untersuchungsführer, Fürst Posharski und Staatsrat Fandorin, gemeinsam im Badehaus Petrossow, Separee 6 antreffen. Allein und ohne Bewachung. Schmieden Sie das Eisen, solange es heiß ist. T.G.
ELFTES KAPITEL,
in welchem Fandorin das Fliegen lernt
»Diese wüste Orgie des Terrors nach so vielen relativ ruhigen Jahren gefährdet den Ruf und die Karriere von uns beiden, doch sie eröffnet uns zugleich einzigartige Perspektiven. Wenn es uns gelingt, diese beispiellos dreisten Übeltäter in die Knie zu zwingen, dann, mein lieber Fandorin, ist uns ein Ehrenplatz in der Geschichte des
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