Tote Pracht
Ross genommen hatte. Und dann sah ich sie beide am Rand
der Lagune.
Ross saß auf dem Schecken, und ein Mann
im Drillich mit langen schwarzen Haaren — es konnte nur D. A. Taylor sein — stand
neben ihr. Ross beugte sich zu ihm hinunter; Taylor hatte eine Hand auf ihre
Schulter gelegt. Sie sprachen miteinander; ihre Gesichter waren sich sehr nah.
Dann hob Taylor die andere Hand und zog ihren Kopf noch näher zu sich. Trotz
der Entfernung sah ich, daß Ross nicht auszuweichen versuchte, als sich ihre
Lippen trafen.
17
In einem Laden in Inverness kaufte ich
mir ein Sandwich und eine Flasche Calistoga-Wasser. Dann fuhr ich die Straße
hinunter und parkte in dem Salzsumpfnaturschutzgebiet, um ein spätes
Mittagessen einzunehmen und nachzudenken. Die Kraniche waren wieder da — ein
halbes Dutzend diesmal — , und der Anblick der friedlich im Schilf stehenden
Vögel dämpfte meinen Zorn über Ross’ Lügen und beruhigte mein erhitztes Gemüt.
Eigentlich war ich weniger auf Ross
zornig als auf mich selbst. In meinem Beruf lügen die Leute mich oft an — manchmal
einfach nur, weil sie glauben, eine Privatdetektivin müßte man belügen. Ich
hätte mehr auf der Hut sein, Ross genauer nach ihrem, wie es schien, immer noch
bestehenden Verhältnis mit D. A. Taylor befragen sollen. Aber das Gespräch war
dennoch nützlich gewesen: Ich hatte immerhin von dem Bombenattentat in Port
Chicago erfahren — ein Anschlag, über den damals bestimmt in den örtlichen
Zeitungen berichtet worden war. Und ich wußte auch ein wenig mehr über einen
Mann namens Andy Wrightman.
Als ich um vier Uhr dreißig beim Sender
KSTS-TV eintraf, sah ich Goodhue in einem kleinen gelben Datsun auf den
Parkplatz fahren. Ich hupte, folgte ihr und parkte direkt hinter ihrem Wagen.
Sie stieg aus und winkte mir zu.
»Ich weiß, was Sie wollen«, rief sie,
»aber ich habe die Information noch nicht. Ich bin gestern lange unterwegs
gewesen, heute habe ich schon sehr früh mit den Organisatoren eines
Wohlfahrtsprojekts, das wir mit sponsern, gefrühstückt, und dann mußte ich
mittags eine Rede über Frauen in den Medien halten. Ich bin schon viel zu spät
dran und völlig erledigt. Ich hoffe nur, daß ich bis zur Pause zwischen meinen
beiden Sendungen durchhalten werde.«
Sie sah wirklich müde aus — nicht
völlig erschöpft, aber ihre Augen waren gerötet und ihre Wangen hohl. Als ich
ihr Stakkatogeschnatter hörte, fragte ich mich, ob sie wohl Aufputschmittel
nahm. »Jess, ich würde Sie nicht belästigen, wenn es nicht wichtig wäre«, sagte
ich.
Ihre Lippen wurden schmal, erinnerten
mich an die Gereiztheit, die sie am Montag nachmittag ihren Mitarbeitern
gegenüber an den Tag gelegt hatte. »Wir haben alle unsere Prioritäten«, sagte
sie, »und meine ist, den Tag über die Runden zu bringen, ohne die
Nachrichtensendungen zu vermasseln.«
»Ich dachte, Sie wollten etwas über
Ihren Vater erfahren und herausfinden, warum Perry Hilderly Sie in seinem
Testament bedacht hat.«
Sie zuckte die Achseln und ging auf die
Hintertür des Studios zu. »Ehrlich gesagt, habe ich festgestellt, daß das alles
nicht so wichtig ist. Ich hatte recht, als ich den Bericht des Privatdetektivs
verbrannte; die Vergangenheit ist tot, und ich muß mich um meine Zukunft
kümmern.«
»Heißt das, daß Sie den Namen des
Detektivs nicht suchen werden?«
»Du lieber Himmel!« Sie wandte sich zu
mir um, ihr Ärger war nun deutlich spürbar. »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß
ich den Namen suchen werde, wenn ich Zeit habe. Ich habe aber heute keine Zeit.
Außerdem war der Bericht vermutlich sowieso nutzlos; es war irgendein fetter
Italiener mit einem schmierigen Zweimannbüro am Rand von Tenderloin. Soweit ich
das beurteilen kann, war er sowieso unfähig.«
Ohne es zu merken, hatte sie mir einen
Hinweis gegeben. Abgesehen von dem Adjektiv »unfähig«, erinnerte mich der Mann,
den sie beschrieb, stark an einen Kollegen und Freund, den ich den Wolf nenne.
Aber es war merkwürdig, daß eine Nachrichtensprecherin seinen Namen vergaß; ich
hatte ihm vor langer Zeit diesen Spitznamen gegeben, weil er in einem
Pressebericht als »letzter der einsamen Wölfe unter den Detektiven« bezeichnet
worden war; er hatte erst vor kurzem wieder im Blickpunkt des öffentlichen
Interesses gestanden.
Aus diesem Grund — und weil ich an
diesem Nachmittag schon einmal von einer Erbin belogen worden war — versteckte
ich meine Befriedigung und sagte nur: »Ich rufe Sie
Weitere Kostenlose Bücher