Tote Wasser (German Edition)
wenn er sich Sorgen machte, hatte Sandy Wilson keine Probleme einzuschlafen. Jimmy Perez hatte immer gesagt, das sei eine Gabe. Sandy dachte, dass es eine der wenigen war, die er überhaupt besaß.
Kapitel 6
E s war Willow Reeves’ erste Mordermittlung als Senior Investigating Officer. Der Boss hatte sie in sein Büro gerufen und gesagt, er wolle, dass sie das übernehme. «Für die Arbeit auf den Shetlands braucht man ein ganz besonderes Gespür. Die wohnen da oben am Rande der zivilisierten Welt und glauben, dass die Regeln der Normalsterblichen für sie nicht gelten. Das sind Bekloppte.» Was bedeutete, dass auch sie bekloppt war – auch wenn sie aus dem unzivilisierten Westen stammte und nicht aus dem unzivilisierten Norden – und dass der Fall ein Kinderspiel für sie sein müsste. Also überhaupt kein Druck. Hätte er gewusst, wo genau sie herkam und wie ihre Familie war, hätte er sie wahrscheinlich wirklich für verrückt gehalten. Aber darüber sprach sie bei der Arbeit nie. Was ging es ihre Kollegen auch an?
Sie nahmen den Morgenflug von Inverness nach Sumburgh, und ihr erster Gedanke bei der Landung war, wie groß und imposant hier doch alles war. Hier sah es aus wie auf einem richtigen Flughafen, mit Autovermietung, Lounge und Café. Alles glänzte in der Sonne. Vicki Hewitt von der Spurensicherung hatte früher schon einmal auf den Shetlands gearbeitet und begrüßte den Sergeant, der sie abholte, wie einen alten Freund. «Wie geht’s Jimmy Perez?», fragte sie.
Der Sergeant zuckte die Schultern und murmelte etwas mit einem Akzent, den Willow kaum verstand. «Nicht so gut. Es braucht seine Zeit.»
Sie alle kannten die Geschichte von Jimmy Perez und seiner Verlobten, die in eine Mordermittlung auf Fair Isle verwickelt und von einem Psychopathen erstochen worden war, und wussten, dass Jimmy sich die Schuld daran gab. In den Kantinen der Highlands and Islands Police war das monatelang Gesprächsthema gewesen. Es gab Leute, die Jimmy ebenfalls die Schuld gaben. Was hatte er sich dabei gedacht, seine Freundin in seine Arbeit hineinzuziehen? Willow hatte nie eine Meinung dazu geäußert. Zu den Dingen, die sie gelernt hatte, als sie in einer Kommune auf North Uist aufwuchs, gehörte, dass es oft am besten war, den Mund zu halten. Wenigstens so lange, bis man wusste, wovon man sprach.
Der Sergeant fuhr sie auf einer schönen, geraden Straße nach Norden, wobei er sie unterwegs auf Sehenswürdigkeiten hinwies, als wäre er ein Touristenführer. Dabei wollte sie ihm Hunderte Fragen über den Fall stellen. In der Nacht hatte sie den vorläufigen Bericht von den Shetlands gelesen und alles, was sie über Jerry Markham finden konnte. In ihrer Tasche befand sich eine Akte mit Ausschnitten der Artikel, die er geschrieben hatte. «Erzählen Sie mir etwas über Markham», sagte sie schließlich.
Die Unterbrechung schien Sandy Wilson nichts auszumachen. «Sein Vater kommt aus dem Süden», sagte er. «Aber die Mutter stammt von den Shetlands, und Jerry ist hier geboren worden und aufgewachsen.»
«Haben Sie ihn gekannt?»
«Oh, aye, aber seit er nach London gezogen war, hatte ich ihn nicht mehr gesehen.»
«Sie können sich also nicht vorstellen, weshalb jemand ihn ermorden wollte? Gab es denn keine Gerüchte? Keine Geschichten von Feindschaft oder langgehegtem Groll?» Sie wusste, dass so ein Groll in kleinen Gemeinschaften, in denen die Menschen dicht aufeinanderhockten, über Generationen am Köcheln gehalten werden konnte.
«Eine Zeitlang hat er als Journalist für die
Shetland Times
gearbeitet», sagte Sandy. «Bevor er die Möglichkeit bekam, für eine Londoner Zeitung zu schreiben. Dadurch hat er sich nicht immer beliebt gemacht. Die Menschen mögen es nicht, wenn man ihre schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit wäscht. Und die
Shetland Times
liest hier jeder. Vielleicht dachte er ja, dass er hier für den großen Durchbruch übt, denn er war immer auf der Suche nach einer aufregenden Story. Aber das ist zehn Jahre her. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er deswegen gestern umgebracht wurde.»
Plötzlich bog er ab und fuhr auf einen Parkstreifen. Mit dem Kinn deutete er den Hang hinunter auf ein großes Haus, das direkt am Ufer stand. Es war aus grauem Stein und von einer hohen Steinmauer umgeben.
«Das ist das Ravenswick Hotel», sagte Sandy. «Es gehört Jerrys Eltern. Peter und Maria Markham.»
«Was halten die Einheimischen von den beiden?» Willow dachte, es müsse teuer sein, ein
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