Tote Wasser (German Edition)
seine Frau auch Dutzende entfernte Verwandte.
Sandy folgte ihm in ein großes Wohnzimmer. Hier oben mochten einst die Dienstbotenräume gewesen sein, doch dieser Teil des Obergeschosses war geräumig ausgebaut und weiß gestrichen worden. Auch hier waren die glänzenden Holzdielen verlegt, die man im ganzen Hotel fand, und vor dem Ofen, in dem ein Holzfeuer brannte, lag ein blau gemusterter Vorleger. Sandy dachte, dass es im Winter ziemlich kühl sein musste hier oben. Er selbst hatte lieber Teppichboden. Auf einem Podest neben dem Ofen stand die Skulptur eines Seevogels, fast lebensgroß, aus Treibholz geschnitzt. Sandy merkte, wie er sie anstarrte. Wie hatte der Künstler es bloß geschafft, dass der Vogel aussah, als würde er gleich ins Meer tauchen?
Maria Markham hatte es sich in einem niedrigen Sessel bequem gemacht. Sie trug einen Morgenmantel, nichts Luxuriöses, eher die Art, die auch Sandys Mutter tragen würde, weich und flauschig. Sie sah fern; Sandy vermutete, dass sie das tat, um sich zu entspannen, nicht weil das Programm sie interessierte. Auf dem Tischchen neben ihr stand ein Drink. Maria erkannte ihn sofort. Sie waren Verwandte, so wie man hier auf den Shetlands eben miteinander verwandt war, entfernt – sie war eine Art angeheiratete Tante –, und in seiner Jugend war er ihr ein paarmal auf Hochzeiten und Beerdigungen begegnet. Sie war immer allein gekommen; ihr Mann und ihr Sohn hatten sie nie begleitet. Und nachdem Peter und sie das Ravenswick übernommen hatten, hatte Sandy sie auf Familienfeiern überhaupt nicht mehr gesehen.
Sie stand auf und wickelte sich fester in den Morgenmantel, peinlich berührt, dass man sie so leger gekleidet erwischt hatte. «Sandy! Was für eine nette Überraschung!» Offenbar kam ihr überhaupt nicht in den Sinn, dass er beruflich hier sein könnte. Er fand, dass sie dicker geworden war. Ihr Kinn war schlaff und fleischig. «Was können wir dir anbieten? Trinkst du einen Schluck Whisky mit uns? Warst du vorhin schon unten? Wir hatten so viel zu tun, dass ich dich gar nicht bemerkt habe. Das Hotel ist voller Leute, die den Bau des neuen Gasterminals da oben im Norden beaufsichtigen. Das ist gut fürs Geschäft, aber wenn es so bleibt, brauchen wir mehr Angestellte. Und wegen des Nebels konnte das Flugzeug nach Edinburgh nicht starten, sodass ein paar unserer Gäste für eine weitere Nacht hier gestrandet sind.»
«Ich bin wegen Jerry hier», sagte er.
«Er ist noch nicht da», antwortete sie. «Er arbeitet noch. Wir erwarten ihn aber jede Minute zurück. Warum wartest du nicht auf ihn? Er freut sich bestimmt, dich hier zu sehen.»
Doch ihr Mann schien zu spüren, dass Sandy keinen Verwandtenbesuch machte. Er stellte sich hinter seine Frau und legte ihr eine Hand auf die Schulter. «Worum geht es?», fragte er. «Ist was passiert?»
«Jerry ist tot.» Sandy hatte mittlerweile schon einige tragische Neuigkeiten überbracht und fand, dass es mit der Zeit nicht einfacher wurde. Diese Worte waren so grausam, dass er das Gefühl hatte, den Menschen damit noch ein zweites Mal umzubringen, doch es gab keinen schonenden Weg, den Angehörigen so etwas mitzuteilen. Am besten ließ man keinen Zweifel, keinen Platz für Hoffnung.
Die beiden starrten ihn an. Es war, als wären sie eingefroren. «Was soll das?», fragte Maria schließlich. «Er ist hier auf den Shetlands. Er kann jeden Augenblick kommen.»
«Nein.» Sandy wünschte, er wäre redegewandter. Könnte besser mit Menschen umgehen. «Man hat seine Leiche in Aith gefunden. Ich habe sie selbst gesehen.»
«Ist der verdammte Wagen schuld?», fragte Markham. «Er ist wie ein Verrückter damit gefahren.»
«Nein.» Sandys Gedanken überschlugen sich, als ihm klarwurde, was Markhams Worte bedeuteten. Natürlich war Jerry mit einem Auto auf die Shetlands gekommen. Das mussten sie finden. Er hätte die Suche danach schon längst in die Wege leiten müssen – Perez hätte das getan. «Nein», wiederholte er. «Es war kein Unfall.»
«Was war es dann?»
Sandy blickte zu Maria hinüber. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich.
«Wir glauben, dass er ermordet wurde», sagte Sandy. «Seine Leiche wurde am Jachthafen von Aith gefunden, und er hat eine Wunde am Kopf. Morgen wissen wir mehr, wenn die Leute aus Inverness hier sind.»
Und dann, mit einem Schlag, zerriss die Stille. Maria schrie und weinte. Sandy neigte nicht zu überspannten Vergleichen, doch er
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