Toten-Welt (German Edition)
Amelie spürte das Bedürfnis, sich um ihn zu kümmern, aber blieb wie im Schock erstarrt sitzen und registrierte aus den Augenwinkeln, dass auch sonst niemand eine Reaktion wagte.
Als wäre nichts geschehen, wandte sich BMF Klangfärber dem bewaffneten Soldaten zu und befahl:
„Führen Sie mich zum Brennpunkt des Geschehens. Sofort!“
Der Raum war kahl, fensterlos und im Zustand seiner einstigen Bestimmung als Festungsvorwerk. Das Licht bestand aus drei nackten Glühbirnen an der Decke.
„Hier wurde vermutlich die Munition gelagert“, sagte Wicca im Ton einer Fremdenführerin. „Deshalb keine Schießscharten oder gar Fenster.“
„Was zum Teufel sind das für geköpfte Viecher?“, platzte der Hase heraus. Er verharrte an den Türstock gedrückt, und auch Frieda und Irene Bomhan wagten sich nicht in die bunkerartige Sechseck-Konstruktion hinein. Wicca dagegen war längst in die Raummitte hin unterwegs, wo auf zwei schmucklosen, aber übergroßen Holztischen zwei riesenhafte Körper lagen. Die Köpfe standen, jeweils zehn Zentimeter von ihren Schultern entfernt, auf ihren Stümpfen und waren ihren Körpern zugewandt. Die Augen schienen halb offen zu stehen und gelegentlich zu blinzeln. Lange, weißgraue Haare verbreiteten sich um die Köpfe und hingen über die Tischkante.
„Werwölfe“, hauchte die Bomhan ebenso angsterfüllt wie ehrfurchtsvoll.
„Das glaube ich inzwischen eher nicht mehr“, meinte Wicca im Plauderton und nahm zwischen den Tischen Aufstellung, je eine Hand auf je einen Brustkorb der riesenhaften Leiber gelegt. Die eine Leiche trug eine Art Rüstung oder Uniform, die andere das Gewand eines hohen kirchlichen Würdenträgers.
„Leben die noch?“, fragte nun der Hase.
„Davon gehe ich aus.“
„Und was passiert, wenn man die Köpfe an die Hälse legt? Wachsen sie dann wieder zusammen?“
„Möglich.“
„Sie haben es nie probiert?“
„Ich werd mich hüten. Was, wenn sie mir über sind? Ich schätze mal, die sind doppelt so groß und fünfmal so schwer wie ich arme kleine Menschenleiche.“
„Aber warum sind sie hier aufgebahrt? Woher kommen die?“
„Na ja, der eine, der hier...“
Wicca trommelte mit den Fingern ihrer rechten Hand aufs Brustbein des Wesens und tätschelte seinen Bauch.
„...der war mal ein richtiger Mensch. Ein Fürstbischof. Den kannte ich persönlich und hab ihm vermutlich zu viel Mittel verabreicht oder hätte es ihm nicht in die Adern spritzen dürfen. Das andere Ding dagegen stammt aus Byzanz, besser bekannt als Konstantinopel.“
„Hä?“, machte der Hase, und bevor Wicca antworten konnte, ätzte Irene Bomhan: „Das heutige Istanbul, du Depp.“
„Na na, mal nicht streiten“, tadelte Wicca. „Vielleicht war das auch mal ein Mensch. Jedenfalls zapfe ich aus diesem Körper mein Mittel, und zwar literweise, obwohl dem Körper nie Flüssigkeit zugeführt wird. Vielleicht absorbiert er die Luftfeuchtigkeit. Es gäbe so viel zu untersuchen und zu analysieren, Generationen von Wissenschaftlern wären beschäftigt. Aber Wissenschaftler gibt es nun nicht mehr, und deshalb werden wir es nie erfahren.“
„Das ist bestimmt ein Alien“, behauptete der Hase und traute sich immer noch nicht näher heran, obwohl er brennend neugierig wirkte.
„Aliens gab es zu meiner Zeit nicht, mein Freund“, belehrte ihn Wicca und leierte ihre eigenen Vermutungen herunter: „Aber ein Urzeitwesen könnte es sein, eine unentdeckte Spezies, eine Mutation oder ein osmanischer Medikus, der an sich Selbstversuche durchgeführt hat mit Substanzen, die wir nicht kennen. Seit ich mir euer Wissen angeeignet habe, sind mir so viele Möglichkeiten eingefallen, was es sein könnte. Vielleicht Radioaktivität oder dunkle Materie, Viren, Bakterien, ein Überlebender aus Atlantis, ein Yeti, eine genetische Manipulation, ein Prä-Tunguska-Ereignis, Pflanzensäfte aus unentdeckten Dschungelgewächsen, vulkanische Dämpfe, eine menschliche Parallelrasse, ein Roboter oder Mischwesen, eine reine Zellkolonie. Oder steckt Zauberei dahinter, ein Fluch, die Strafe Gottes oder des Teufels? Vielleicht war da ein Mensch zu böse für die Hölle und wurde als Monster zurückgeschickt? Die Möglichkeiten sind unendlich. Und ist es nicht gerade so schön, weil wir es nicht wissen? Ein ewiges Geheimnis und daher für immer von einem Zauber umgeben. Aber nun will ich mal mein Versprechen einlösen.“
Rasch kam sie aus der Raummitte zurück zur Tür, wo ihre drei Begleiter aneinander
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