Totenacker
‹lebensunwertem Leben› zu sprechen. Der ganze Irrsinn wurde nicht in Frage gestellt, es war ja alltäglicher Sprachgebrauch und damit Realität.»
Er besann sich. «Entschuldige, Bernie, sprich weiter.»
«Du hast ja recht.» Schnittges nahm seinen zweiten Notizzettel zur Hand.
«Im November 1939 wurde in Bedburg ein Wehrmachtslazarett eingerichtet, und da war dann für viele Patienten kein Platz mehr. Sie wurden in andere psychiatrische Kliniken verlegt – zunächst. Ende Oktober 1939 unterzeichnete Hitler einen Erlass – rückwirkend zum 1. September.» Er schaute Penny an. «Der Beginn des Zweiten Weltkrieges, der Angriff auf Polen: ‹Ab 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.› Wartet mal, den Erlass habe ich wörtlich. Dieser Dr. Brandt, von dem da die Rede ist, war übrigens Hitlers Leibarzt, der mit seinem Kollegen den Führer in den letzten Jahren mit Amphetaminen und anderen netten Sachen versorgt hat, damit er durchhielt. Also: ‹Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung damit beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbaren Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.›»
Er schaute auf. «Auch wenn man das eigentlich alles schon weiß, muss man doch immer wieder schlucken.»
Die anderen schwiegen, Penny war blass.
«Die Zeit der Euthanasie, der organisierten Tötung, fing mit der Erschießung von Kranken in Polen im September 1939 an. Deshalb die Rückdatierung des Erlasses. Im selben Jahr noch wurden Vergasungsanstalten eingerichtet, und ab Oktober 1940 begann dann der systematische Massenmord durch Gas.
In Bedburg selbst wurde nicht getötet, man begann aber schon 1939 damit, besonders lästige oder aufmüpfige Patienten in Euthanasiekliniken zu verlegen, und im März 1940 kam es zu Massendeportationen in Vergasungsanstalten.
Bis hierhin bin ich gekommen. Das Folgende habe ich nur überflogen, eine Menge Daten über die Transporte, und irgendwo kam auch Kleve vor. Am besten, ich klemme mich jetzt gleich wieder dahinter.»
«Ja», sagte van Appeldorn leise, «mach das.»
«Dr. Zirkel war also ein Nazi», stellte Penny fest.
«Das waren die meisten», gab Cox zu bedenken. «Aber so, wie es sich anhört, war er nicht nur ein Mitläufer. Er hat hinter der Ideologie gestanden und aktiv mitgemacht. Und zwar freiwillig, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass man ihn als Katholiken dazu hätte zwingen können.»
«Woher weißt du, dass er katholisch war?», fragte Penny verblüfft.
«Weil in katholischen Einrichtungen nur Katholiken arbeiten durften. Das ist ja heute in vielen Gegenden immer noch so.»
Van Appeldorn griff nach seinen Autoschlüsseln.
«Ich fahre zum Krankenhaus. Die müssen dort doch irgendwelche Unterlagen haben, eine Chronik vielleicht. Der Mann war immerhin Chefarzt.»
«Und ich könnte nach Münster fahren, zum Archiv der Clemensschwestern», schlug Penny vor. «Der Stadtarchivar meint, es könnte dort noch mehr Unterlagen geben, Tagebücher der Nonnen vielleicht. Womöglich haben die auch etwas über die Ärzte geschrieben.»
«Das ist eine gute Idee.»
Cox faltete die Hände. «Ich verstehe immer noch nicht, wie unsere Toten in das Ganze hineinpassen. Sie waren alle behindert, also aus Nazisicht ‹unwertes› Leben. Wieso waren sie dann überhaupt in Kleve, alle zusammen, eine Gruppe? Warum hat man sie nicht nach Bedburg gebracht und von dort aus deportiert?»
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Sieben
Den ewigen Studenten hatten sie Onkel Fricka in der Nachbarschaft genannt, aber das hatte es nicht ganz getroffen. Durch den Krieg hatte er etliche Schuljahre verloren, erst spät Abitur machen können und dann Biologie studiert, ein paar Jahre bei Bayer in Leverkusen gearbeitet und dann noch ein Studium abgeschlossen, Agrarwissenschaften. Und sich das Geld dafür verdient, indem er in den Semesterferien in Nierswalde in einer Gärtnerei gearbeitet hatte – Hornhaut an den Händen und dunkelbraun gebrannt.
Sie hatten alle in einem Haus gewohnt, am Mittelweg, unten die Großeltern, Oma und ihr Gemüsegarten, Opa und seine Karnickel, und oben die «jungen van Appeldorns», seine Eltern, die kleine Marlies und er.
Es hatte immer viel Streit gegeben, meist weil kein Geld da war, böse Blicke und bitteres Schweigen. Die Oma, die «es immer schon gewusst hatte», und der Großvater, der mit der Faust auf den Tisch schlug:
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