Totenacker
entschuldige», Onkel Fricka machte Anstalten aufzustehen, «du möchtest sicher ein Glas.»
Aber van Appeldorn hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. «Ich brauche kein Glas, ich trinke Bier am liebsten aus der Flasche.»
Der Onkel lehnte sich wieder zurück und nickte zufrieden. «Genau wie ich.»
Er machte es Norbert leicht, stellte keine Fragen, erzählte ein bisschen von sich.
Seit dem Tod seiner Frau lebte er allein, hatte aber eine Zugehfrau, die fünfmal in der Woche kam, für ihn einkaufte und kochte, den Haushalt versah.
Merle war Archäologin und reiste durch die Welt, kam aber immer mal wieder zwischen den verschiedenen Grabungsprojekten zu ihm nach Hause und blieb ein paar Wochen.
«Wir verstehen uns gut.»
«Das ist schön», sagte van Appeldorn.
Onkel Fricka lächelte verschmitzt. «Aber du bist nicht gekommen, um in Familiengeschichten zu schwelgen. Wie kann ich dir helfen, mein Junge? Geht es um die Skelette aus dem Krieg, die ihr gefunden habt, von denen ich heute in der Zeitung gelesen habe?»
«Ja, aber ich weiß eigentlich gar nicht, ob du mir wirklich helfen kannst. Du bist nur der einzige Mensch, den ich kenne, der auch während des Krieges in der Stadt war, der weiß, was passiert ist, der Leute gekannt hat – Kleve war damals doch noch viel kleiner als heute. Früher hast du mir oft von der Kriegszeit erzählt, erinnerst du dich?»
Onkel Fricka schloss die Augen. «Was hat mich nur geritten, dir von dieser furchtbaren Zeit zu erzählen?»
«Aber du hast doch nichts Furchtbares erzählt», wandte van Appeldorn hastig ein. «Du hast von deinen Abenteuern berichtet. Dass du Motorrad gefahren bist, obwohl du nicht einmal fünfzehn warst. Dass du Bombensplitter gesammelt hast und Munition. Und mit deinen Freunden hast du deine Schätze getauscht, genauso wie ich es damals mit meinen Fußballbildern gemacht habe. Vom Radiokrieg hast du gesprochen, weißt du noch?»
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Onkels. «So habe ich das ausgedrückt? Na ja, für uns Jungen war es das anfangs ja auch, ein Radiokrieg. Als Achtjähriger hatte ich stundenlang vor dem Kasten gehockt und die Olympiade in Berlin verfolgt. Olympische Spiele in unserem Land, das war sensationell. Als der Krieg anfing, war ich elf und saß wieder Tag für Tag vor dem Radio, meist zusammen mit meinem Freund Kurt von nebenan, und statt der Medaillengewinner lernten wir die Luftkriegshelden auswendig.
Der wirkliche Krieg war weit weg. Gut, manchmal gab es Fliegeralarm, und wir rannten in den Keller. Ein Abenteuerspiel, mehr nicht. Die Flugzeuge flogen immer über Kleve hinweg Richtung Ruhrgebiet, unsere Stadt interessierte keinen. Warum auch?
Aber es war Krieg. Krieg war unser Kinderalltag. Und wenn schon nicht wirklich etwas passierte, haben wir eben Krieg gespielt, Unterstände gebaut, in den Gärten mit Wasserpistolen die Bienen abgeschossen, mit der Zwille Tauben von den Bäumen geholt. Mit ausgebreiteten Armen sind wir Jungs brummend durch die Straßen gerannt, waren selbst Jabos und Stukas. Ein Spiel – bis Mitte 44. Da hat die HJ mich doch noch entdeckt, darauf hatte ich schon nicht mehr gehofft. Ich wurde Jungpimpf, Luftwaffenhelfer bei der Flak. Vater war irgendwo draußen an der Front und ich als sein Stellvertreter im kriegswichtigen Einsatz in der Heimat. Ich war stolz wie Bolle.
Eine kurze Ausbildung, und dann wurden wir sofort eingesetzt an der Schanzbaustelle zum Schaufeln. Ein paar tausend Männer und wir Pimpfe.
Dann kam der Luftlandeangriff, und wir kriegten den Befehl, sofort abzurücken. Wie sind gerannt wie die Karnickel, Kurt und ich immer nebeneinander. Hinter uns schlugen die Bomben ein. Die Schanzarbeiter kamen alle um, aber das wussten wir da noch nicht.
Um uns herum Chaos, LKWs mit Soldaten, die von der Front abhauten, die ganze Tiergartenstraße verstopft.
Uns trieb nur ein Gedanke: nach Hause!
Und immer wieder hinter uns der Donner. Kam er näher? Wir sprangen in jedes Einmannloch, das auf unserem Weg lag. Dann wieder weiter über die Gruft den Berg hoch.
Hatte ich Schiss? Wahrscheinlich, aber das war nicht mein stärkstes Gefühl. Die Front war da! Hier bei mir zu Hause. Ich wurde gebraucht, jetzt war ich kriegswichtig!»
Er trank einen Schluck Bier und lehnte sich wieder zurück. «Ende 44 sollten wir dann evakuiert werden, meine Großeltern, eine Tante, meine Mutter und mein kleiner Bruder Erich, dein Vater. Auch ich sollte mit, aber für mich stand fest, ich würde
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