Totenbeschwörung
Moskau dazu einsetzt, warum dann nicht mich? Sollte es eine Bestrafung sein? Schloss er sie vorübergehend aus seinen Plänen aus, weil sie sich ihm widersetzt hatte? Oder bedeutete dies, dass er ihr überhaupt nicht mehr traute?
Schließlich war sie doch eingeschlafen, von merkwürdigen Träumen geplagt, an die sie sich kaum zu erinnern vermochte. Alles, was sie noch wusste, war, dass sie von schwarzen Raubvögeln mit Rabenschwingen, durchdringenden Augen und furchtbaren Klauen und Schnäbeln durch die zerfurchte, graue Landschaft eines gigantischen, pochenden Gehirns gejagt worden war, und dass die Vögel ihr immer wieder dieselben Fragen stellten ...
Ihre Schreie (ihre Fragen?) hallten noch in Siggis Kopf wider, als sie erwachte, und angesichts der Tatsache, dass Tzonov und seine ESPer in unmittelbarer Nähe waren, fragte sie sich, ob es vielleicht mehr als nur ein Traum gewesen war. Unter ESPern wie diesen dürfte es gang und gäbe sein, in das Bewusstsein eines Schlafenden einzudringen. Auch Siggi hatte früher in Erfüllung ihrer Pflicht ... Worüber also beklagte sie sich?
An jenem Morgen, gestern, war Tzonov auf den Beinen gewesen, sobald die Dämmerung einsetzte, und seine erste Amtshandlung hatte darin bestanden, die Suche abzubrechen und die Befehle der Trupps, die in dem Gebiet östlich des Passes eingesetzt werden sollten, zu widerrufen. Doch noch während er angeordnet hatte, den Jet-Copter für einen Einsatz westlich des Gebirges vorzubereiten, und Siggi ausfindig machte, um sie mitzunehmen, hatte es begonnen, heftig zu schneien.
Der Flug wurde abgesagt, denn selbst ein Routinestart war hier ja schon schwierig genug, sodass Tzonov für den Rest des Tages schlechte Laune hatte. Siggi dagegen war ein solches Wetter noch nie so willkommen gewesen. Und es schneite weiter. Es war zwar kein Schneesturm, dafür aber ein steter Schneefall, der den Himmel verdeckte, den ganzen Pass in Weiß tauchte und jede Suche aus der Luft unmöglich machte. Auch an einen Aufklärungsflug, den Tzonov ansonsten ins Auge gefasst hätte, war nicht zu denken.
Je weiter der Tag fortschritt, desto mehr gerieten Siggis Sorgen bezüglich ihres Verhältnisses zum Chef des russischen E-Dezernats ins Wanken. Mit jeder Stunde, die verging, entfernte Nathan sich weiter von Perchorsk, und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass herauskam, welche Rolle sie dabei gespielt hatte.
Außerdem war ihr klar, dass Tzonovs Männer Nathan aller Wahrscheinlichkeit nach erschießen würden, wenn sie ihn aufspürten, auch wenn die Befehle von Präsident Turchin gegenteilig lauteten. Später würden sie dann umfangreiche Berichte verfassen, um darzulegen, dass Nathan Widerstand geleistet und sie dadurch gezwungen hatte, Gewalt anzuwenden. Es konnte Tzonov aber auch genauso gut einfallen, Nathan einfach verschwinden zu lassen mit der Erklärung: »Vermutlich in den Westen abgesetzt«. In diesem Fall könnten sie ihn mit Kugeln durchsieben und seinen Körper irgendwo in eine tiefe Schlucht werfen, und niemand würde je auf die Idee kommen, Turkur Tzonov damit in Verbindung zu bringen. Tzonov würde alles tun, um zu verhindern, dass Nathan in die »falschen« Hände geriet oder nach Starside zurückkehrte, so gering die Chance dazu auch sein mochte. Oder ging es Tzonov lediglich darum, Rache zu nehmen – als Ausgleich für ein angeschlagenes Ego und ein paar peinliche Tage, an denen nicht alles so lief, wie er, Tzonov, es wollte? Aber gleich das Leben dieses Mannes!? Das schien Siggi doch ein recht hoher Preis.
Sie hatte versucht, sich etwas vorzumachen, sich einzureden, dass Nathans Tod auch für sie von Nutzen sein würde. Ein Toter konnte schließlich nicht reden. Aber verdammt nochmal, sie hatte ihn gekannt , wenn auch nur kurz, und das hatte ihr Leben verändert! Sie wäre niemals in der Lage, Nathan – dieses Bewusstsein so vollkommen ohne Arg – aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Und das wollte sie auch nicht!
So hatte sich der vergangene Tag zäh dahingezogen. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet, und Siggis Stimmung war wieder auf den Tiefpunkt gesunken ...
Tzonov hatte es so arrangiert, dass sie mit ihm und seinen Spießgesellen zu Abend essen musste. Siggi aß nur wenig und hielt ihre gedankliche Abschirmung die ganze Zeit über aufrecht. Sie spürte die Feindseligkeit, die sie umgab, und vor allem Alexei Yefros’ brennende, lüsterne Blicke. Sie konnte regelrecht fühlen, wie das Bewusstsein hinter den funkelnden, schwarzen
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